Uranwelt

Der Großmajor war grün.

Worum geht's?

Die Welt ist nicht mehr so, wie sie war, und auch nicht so, wie sie sein sollte. Das wissen sie alle. Sie alle waren dabei, damals, bei dem Schrei.
Das ist vorbei. Jetzt ist das Danach. Mittendrin: Johnny.

Johnny ist niemand. Johnny ist kein Held und auch kein Antiheld, nein, Johnny ist Johnny. Nicht mehr und auch nicht weniger.
Die Menschen sind seltsam geworden. Alles wird grün eingefärbt. Klare Gedanken sind selten. Der dämonische Großmajor im Fernsehen zwingt Johnny zum Marschieren. Marsch, Johnny, marsch! Er ist grün. Blickkontakt ist kritisch. Die Bäume sterben. Gespräche sind selten. Die Dächer sind grün. Die Laternen sind grün. Alles ist grün. Grün. GRÜN.
Das ist Uranwelt.


URANWELT.

EINE ABSURDE GESCHICHTE.

Die Bomben waren um kurz nach 9 Uhr morgens in die Atmosphäre eingetreten, heimlich, still und leise, und vollzogen unter vollster Körperspannung einen gespenstischen Tanz, der verstörend und hypnotisierend zugleich war. Sie taumelten und wirbelten, drehten sich um imaginäre Achsen und streuten immer weiter auseinander. Als sie schließlich die Wolkendecke durchbrachen, waren sie außer Kontrolle geraten, und auch wenn sie noch immer heimlich, still und leise blieben, waren sie nun sichtbar. Theoretisch.
Ganz real war es nur eine allerkleinste Minderheit von Menschen, die die Augen in diesem Moment nach oben gerichtet hatten, schließlich rechnete ja niemand damit, niemand wusste, dass so etwas passieren würde. Nur diese paar Wenigen waren eben hier und dort vorhanden, die zwar nicht wussten, dass es geschehen und freilich heute geschehen würde, die aber doch schon seit einigen Tagen und in besonders seltenen Fällen sogar seit Wochen schon ein schwer zu definierendes Bauchgefühl vernommen hatten, eine unheilvolle Ahnung: Da ist was im Busch. Da staut sich was zusammen. Da kommt was. Bald.
Selbst als die Bomben einschlugen, gab es noch immer kein Geräusch, keine Explosion, keine Pilzwolke, keine Staublawine. Es war, als wäre nichts geschehen.

Und dann kamen die Schreie.

Erst einzelne Stimmen, dann immer mehr, erhoben sich aus den Ruinen der alten Welt, ein elendiger erbärmlicher Chor, eine Kakophonie des Unglaubens über das Geschehene, des Entsetzens, des blanken, puren Horrors. Eine Mutter mit ihrem Kind noch auf dem Arm, zwei Schüler im Park, ein Pärchen daheim, der Taxifahrer im Stau und der Bauarbeiter mit dem Presslufthammer in der Hand, sie alle schrien, schrien, schrien sich die Seele aus dem Leib. Aber was war?
Die Ruinen der alten Welt, in denen sie alle sich befanden und panisch schmerzhaft schrien und kreischten, das waren keine schwelenden Mauern, keine Krater, keine kümmerlichen Überreste einer alten Zivilisation, die sich selbst den Garaus gemacht hatte, das waren Straßen und Häuserblocks und Vororte und Städte, ja, ganze Städte, und niemand war gestorben, und sie alle standen da und schrien, schrien, schrien.
Sie hatten keine Schmerzen. Ihnen war der Boden unter den Füßen und der Kopf vom Halse fortgerissen worden, metaphorisch gesprochen, aber sie waren unversehrt. In ihrem Kopf war der Wandel eingetreten. Sie alle wussten: Nichts würde so sein, wie es war.

Die Erde drehte sich weiter, und schließlich, notgedrungen, ging auch der Alltag weiter - aber er lief nicht flüssig, sondern stotternd und aufstoßend, ruppig und kratzig, bekannt und gleichzeitig ungewohnt, gänzlich ungewohnt. Eine Woche verging, dann zwei, dann hörte man zu zählen auf, dann vergaß man, dass es Zeit gab, das Konzept wurde fremd, man schleppte sich von Moment zu Moment in dieser elenden Welt, die so pervers gleich aussah wie die gute alte Welt, in der man gelebt und geliebt hatte, aber nun, in dieser falschen, falschen Welt, da konnte man nur existieren - und so existierten sie, aber leben konnte man es nicht nennen. Der Mensch ist ein anpassungsfähiges Ding, aber auch er hat Grenzen.


Der Prophet sagt: "Es fällt ein Beil, es zieht der Strick - das ist des Henkers Missgeschick".
Der Henker aber sagt: "Badabing, badabum, ich mach' es schnell, dann fällst du um."

Wer recht hat, muss nun jeder für sich selbst entscheiden. Aber eigentlich ist es auch egal. Was noch egal ist? Der Mensch. Was ist der Mensch? Eine Sache. Viele Dinge sind Sachen. Zum Beispiel auch Schreie. Die Schreie wiederum sind lange schon verstummt, versiegt, nur ab und zu kann man durch dünne Wände und grüne Scheiben einen schreien hören, der Schrei ist zumal nur kurz, aber treffsicher auf irgendeiner unbenannten Note angesiedelt; dann, ganz abrupt, so wie er auch begonnen hat, verstummt er wieder und es ist, als wäre nie etwas gewesen. So ist das nun einmal. Diese Bomben, die gar keine Bomben waren, schließlich lebten, nein, existierten noch alle - diese Bomben waren gefallen, und daran ließ sich überhaupt ganz und gar nichts mehr ändern. So ist das nun einmal. Mensch, sagte er sich, so ist das nun einmal. Und so war es dann auch.

Aber wenn all die Menschen einfach so sind und einfach so ihre Dinge und Sachen tun und machen und sind, ja sind, aber was sind sie? Wo bleibt dann der Sinn für das, was eigentlich ein Menschen so macht? Wie da der Bauarbeiter mit seinem Presslufthammer herumlärmt und das Baby auf dem Arm der Mutter herumplärrt - warum tun sie das denn überhaupt? Warum? Sind sie so unzufrieden? Mit was? Mit wem? Mit sich? Mit der Welt, mit diesem grün-braun gesprenkelten Erdenrund, das sich wie eine Jahrmarktsattraktion im leeren, schwarzen Nichts herumdreht, und ei! wie die Sterne leuchten und blinken, das schaut gar fein aus! Und hui, noch eine Umdrehung! Warum das so sein muss, das muss man ja nicht fragen, und deshalb tut es auch keiner. Einer? Nein, keiner. So beginnt, oder endet, alles und manchmal auch nichts, aber in diesem Falle immerhin Etwas, auch wenn dieses Etwas sich eventuell später noch als ein Nichts herausstellen wird. Das muss man abwarten. Muss man einfach.


Tick. 
Tack. 
Badabing,
badabum.


Der Großmajor war grün. 

Von der aufwendigen Kopfbedeckung und dem Brokathemd mit dem hochgestellten Kragen über die weite Hose aus Seide sowie die schweren Stiefel bis hin zu seiner Haut - alles fein im Einklang. Alles unicolor. Alles grün.
Nicht nur er. Der Tisch und die überwiegend leeren Kaffeetassen darauf, die Kaffeereste darin, die heruntergekommenen Bodenfliesen darunter, alles grün. GRÜN. Der adrette Herr Großmajor war aber, das musste man ihm lassen, noch ein bisschen mehr grün als die anderen Dinge, er hätte freilich den Grünheits-Wettbewerb, gäbe es denn einen solchen, gegen die anwesende Gegenstandswelt gewonnen. Herzlichen Glückwunsch, Herr Großmajor!
Wobei er selbst überhaupt nicht anwesend war.
Sein Gesicht und manchmal eben auch sein gesamter Körper, waren zu sehen im Zentrum eines dicken flimmernden Fernsehkastens, der auf den bereits genannten Bodenfliesen positioniert war, davor der Tisch mit den Kaffeetassen. So war das eben. Der Herr Großmajor war im Fernsehen. So war das eben.

Er machte seinen Mund auf, präsentierte rasiermesserscharfe Zähne und blaffte den jungen Mann mit zerzaustem schwarzen Haar an, der jenseits des Bildschirms auf dem grünen Sofa saß, mit dem Kinn auf die Brust gedrückt.
“Johnny!”, rief der Großmajor, was durch die miserable Funkqualität sowie seinen fremdländischen Dialekt wie Jonnäh klang. Johnny schreckte aus seinem traumlosen Schlaf hoch und schaute aus Reflex auf die strahlend grüne Uhr an der grünen Wand, die eigentlich nutzlos war. Dennoch gab sie ihm das Gefühl, dass er noch einige sehr wichtige Momente übrig hatte. Der Moment war noch nicht gekommen. Der Alte im Fernsehen war nur etwas übereifrig.
“Johnny!”, rief der Großmajor erneut durch den Bildschirm und klopfte dagegen. “Auf das Bein und strammgestanden!” (Uff des Bain und strammgstandn!)
Johnny lief der Schweiß über die Stirn - der Schweiß war zwar nicht grün, bekam aber durch die Deckenlampe immerhin einen entsprechenden Schimmer -, richtete sich auf und presste die Hände straff an die Seiten.
“Und nun das Lied!”, röhrte der Großmajor in seiner absurden Militäruniform. Viele bedeutungslose Abzeichen baumelten von seiner Brust herab.
Das Lied setzte aus dem Off ein, während der Großmajor stolz auf der Stelle marschierte. Johnny tat es ihm gleich. Das Marschieren war im Übrigen nicht grün und erschien auch nicht so. Handlungen hatten keine Farbe. Das wusste jedes Kind.


Ein anderer Moment. Johnny schloss die Wohnungstür hinter sich, die der Herr Vermieter vor einigen Momenten frisch grün angestrichen hatte, und trat auf den Flur.
Da lag ein Mann. Ein Mann lag da.
Johnny ignorierte ihn. Er kannte das so.
Dieser Mann dort auf dem Boden war der Herr Nachbar.
Der werte Herr Nachbar nämlich war es, der sich eines schönen Momentes hingelegt hatte, wie das ganz üblich war bei Tieren, wie auch der Mensch eines war, allerdings hatte er sich nicht etwa in sein Bett oder auf sein Sofa gelegt, nein, sondern unmittelbar vor seine Wohnungstür. Ja, vor seine Wohnungstür. Im Flur. Jedesmal, wenn Johnny also vor die eigene Tür trat, stolperte er auf dem Weg zum Treppenabgang über den Herrn Nachbar, der sich scheinbar in den dazwischenliegenden Stunden nicht ein Stück bewegt hatte. Aber er existierte noch.
Beim ersten Mal hatte Johnny sich ordentlich erschreckt, wie das Menschen eben so taten, und hatte den Herrn mit gewissem Widerwillen angesprochen, ihn gegrüßt und ihn gefragt, ob denn alles gut bei ihm sei. Da kam keine Antwort. Natürlich kam da keine Antwort. Dann hatte Johnny den Puls gefühlt, der Puls war vorhanden, und er hatte ein Atmen vernehmen können, und der Brustkorb hob sich auf und ab und auf und ab, und das Herz wummerte da auf Sparminimum, aber es wummerte, und das war die Hauptsache.
Aber die Augen! Die Augen waren tot, waren wie tot. Dieser stumpfe, starre Blick vom Herrn Nachbar, der so leer und leblos war, dass es Johnny nichts ausmachte, direkt hinein und hindurch zu schauen. Da war nichts, was zurückschaute, keine Flamme, kein Funken, nichts, was eine Spiegelfunktion hätte haben können, und deswegen waren es eben ausgerechnet diese scheintoten Augäpfel, die Johnny weniger Angst machten als all die anderen herumlaufenden Augen in der Stadt, und deswegen waren es überhaupt die einzigen, in die er über viele Momente hinweg hineingeschaut hatte.
Den Namen des Nachbarn kannte er unterdessen nicht, und es war ihm auch nie in den Sinn gekommen, danach zu fragen. Das da war eben sein Nachbar. Mehr musste man nicht wissen, mehr gab es nicht zu wissen, und das war das. Ja, das war das. Was mit dem Kerl überhaupt los war, davon hatte Johnny auch keine Ahnung, und er fühlte sich wenig qualifiziert, Spekulationen herumzuwerfen, und außerdem wusste er ja, dass sowieso mit jedem Menschen irgendetwas schrecklich falsch war, wie könnte es auch anders sein, und da war es nicht Johnnys Aufgabe, nein, war es nicht, den anderen ihre Probleme für sie zu lösen. Das konnte jeder für sich alleine machen, das war ja wohl das mindeste, was man so von einem modernen Menschen erwarten konnte, also, dass er selber herausfinden würde, wie er jeweils mit all dem umgehen wollte oder konnte oder musste. Zumindest mit dem Herumliegen und Scheintot-sein des Herrn hatte Johnny sich abgefunden, wie mit so vielen anderen Dingen in und auf der Welt, und deshalb hob er einfach das Bein und stieg behutsam, ja, behutsam, über den reglosen Körper da im Flur hinweg und hinfort die Etagen hinab, hinab, bis hinaus auf die ausgetrocknete Straße, wo nur wenige Menschen waren, aber immerhin bewegten sie sich. Und Johnny war einer von ihnen und legte sich nicht hin und gab nicht einfach auf. Nein, er gab nicht einfach auf. Das war das mindeste, was man von ihm erwarten konnte.


“Neuigkeiten! Die Wissenschaftler in Übersee sind verblüfft: runde Dreiecke! Was sind sie und warum?”
Das war wieder ein anderer Moment. Und das war die Stimme des Magazins, das oft auf dem Platz in der Nähe von Johnnys Wohnblock stand, auf einem Holzklotz, der strategisch platziert war vor einem Monument von irgendeinem Reiter aus irgendeiner Ecke der Geschichte. Johnny kannte den Reiter nicht. Der Reiter war egal. Das Magazin war auch egal, und wenn man schon dabei war, konnte man Johnny mit in die Aufzählung aufnehmen, nur eines war wichtig, nämlich das, was das Magazin von sich gab.
“Des Weiteren: Internationale Sportereignisse bis auf weiteres abgesagt aufgrund mangelnder Zuschauer.”
Neben Johnny hatten sich noch ein paar andere Leute versammelt, die halbwegs aufmerksam dem Magazin zuhörten, dem Magazin mit seinem grünen Hemd, seiner ausgefransten Schiebermütze und den Füßen in grünlich schimmernden, furchtbar ausgetretenen Schuhen. Das Magazin räusperte sich.
“Nun eine Aktualisierung zur Situation der Elefanten.”
Johnny horchte auf. Das war eine Sache, die ihn tatsächlich interessierte.
“Uns erreichen halbherzige Berichte aus Übersee, dass der letzte Elefant vor wenigen Momenten gestorben ist. Sämtliche Elefantenpopulationen sind einfach so verendet. Ende. Die gibt es jetzt nicht mehr. Die sind tot, alle tot. Damit reiht sich diese Spezies zu den Walen ein, die ihrerseits bereits vor einigen Momenten ausgestorben sind und jetzt auch alle tot, tot, tot sind. Wie auch bei den Walen lässt sich nach wie vor nicht bestimmen, woran genau die edle Spezies der Elefanten global betrachtet zugrunde gegangen ist. Aber sie ist es. So ist es.”

Das war doch mal was. Die Elefanten also auch. Diese großen, majestätischen, grauen Tiere. Tot. Na also. Und Elefanten waren doch, so wie Wale eben auch, ganz intelligent gewesen, soweit Johnny das beurteilen konnte - wie konnte es also sein, dass die Dinger sich einfach so haben sterben lassen? Das konnte doch kein Unfall sein, oder? Nein, das konnte kein Unfall sein, das musste Absicht sein. Johnny schaute sich um, ob er bei den anderen Zuhörern ähnliche Gedanken festmachen konnte, was aber schwer zu ermitteln war, weil er um jeden Preis niemandem in die Augen gucken wollte.
Vielleicht war das ein ganz individueller Gedanke von Johnny, den er sich da gerade gebaut hatte, nämlich der Gedanke, dass die Elefanten - aufgegeben hatten.

Die Elefanten waren gestorben, weil sie einfach aufgegeben hatten, und die Wale waren gestorben, weil sie einfach aufgegeben hatten. Die Bäume waren gerade dabei, aufzugeben, das konnte man sehen, wenn man in die Natur ging und feststellte, dass abseits vom ewig sprießenden Gras viel weniger Grün da war als es sein sollte. Die Bäume waren dabei, aufzugeben.
Die Giganten der Welt waren es, die aufgaben, der Mensch aber in Summe nicht; es sprach nicht unbedingt für seine Größe, dass er einfach weitermachte, als wäre nichts. Aber es war schließlich doch etwas, das war klar, bloß verhielt sich dieses Etwas so, als ob es nichts wäre. Johnny für seinen Teil wusste, dass etwas war, aber er zweifelte ernsthaft, ob das den anderen auch so ging, die zum Beispiel jetzt gerade dem Magazin zuhörten, während er so gar nicht zuhörte, sondern seinen eigenen endlos wirrenden Gedanken folgte, diesem ewigen, nervtötenden Fritzel-Fratzel, diesem statischen Rauschen in seinem Kopf. Die anderen standen da und hörten zu, als wäre nichts.
Zu gerne würde er einen von den anderen um ihn herum ansprechen. Über IRGENDWAS wollte er reden, seine Meinung und Gedanken kund tun, es mussten ja nicht einmal die Elefanten sein, die sich aufgegeben hatten, es konnte irgendwas sein, einfach irgendwas. Die Vorhänge sind BLAU, würde er vielleicht sagen, und sein Gegenüber würde sagen Junge, mach die Augen auf, die sind GRÜN. Die sind so grün wie die Sonne, die sind Grün! Und er würde sich bereit machen zu widersprechen und dann innehalten und innerlich zusammenzucken bei der Erkenntnis, dass die Sonne ja in der Tat grün war und dass der Andere also recht hatte. Wie zum Teufel ist das überhaupt passiert?, würde er dann mit ganz anderem Tonfall und Blick nach oben sagen, und der andere würde bloß mit den Schultern zucken und sagen Du fragst komische Fragen. Ist halt so, und dann würde er ohne ein weiteres Wort einfach das Gespräch beenden und sich umdrehen und gehen und Johnny mit seinen Meinungen und Gedanken wieder alleine lassen.
Also sagte Johnny nichts. So war es einfacher.
Er drehte sich um und ging, während die Nachrichten hinter ihm weiterspulten. Nichts aus dem Schandmaul des Magazins war gut, alles war schlecht, was da berichtet wurde, das Magazin war eine grüne Krähe, die Unheil kündete. Alle seine Worte stanken ekelerregend nach Verwesung! Konnte das denn sonst niemand riechen? Aber nein, die anderen waren innerlich tot, fürchtete Johnny, sie waren innerlich tot, so wie die Elefanten und Wale und bald auch alle Bäume äußerlich tot waren. Johnny ging. Er schaute nicht zurück.

Einen anderen Moment hatte das Magazin von den Tauben erzählt - von den Tauben und ihrem Ende. Das hatte folgendermaßen geklungen. Tauben waren von Natur ausgesprochen dumm, das wusste jedes Kind. Und die Taubenpopulation hatte, so wie jede Population, nach jenem Moment einen gewissen Schaden genommen und sich quasi von selbst dezimiert, wenn auch natürlich nicht in dem Ausmaße wie die Elefanten und Wale und Bäume, denn die Tauben waren eben nicht allzu intelligent, wie bereits genannt worden ist. Allerdings waren die Tauben eben wirklich sehr dumm und danach noch dümmer als sowieso schon, sodass die restlichen Tauben, die von vornherein nicht bekannt für besonders gute Nestbauerei gewesen waren, endgültig alle architektonischem Unterfangen aufgegeben hatten und, anstatt ihre Eier in ein Nest zu legen, ihre Eier einfach im Flug legten, von wo aus sie den Gesetzen der Schwerkraft entsprechend - die hatten nämlich nicht im geringsten aufgegeben - auf den Boden oder auch vereinzelt Köpfe stürzten. Es erübrigt sich zu sagen, dass Tauben bald ausgestorben waren und dass sie sich sozusagen selbst ausgestorben hatten, ohne dass man aber von richtigem Suizid sprechen konnte.

Na gut. Das war eine von den Nachrichten, die das Magazin erzählt hatte. Ob das so stimmte, konnte wahrscheinlich niemand wirklich überprüfen, aber zumindest war das überhaupt mal eine Erklärung dafür, dass es eben überhaupt keine Tauben mehr in der Stadt gab. Gerade deswegen hasste Johnny das Magazin, das er noch gerade so hinter sich reden hören konnte. Antworten zu haben war verdächtig. Er hasste alles daran. Er hasste es.


Ein anderer Moment.
Die Maschinen liefen. Die Maschinen produzierten ein Knarzkonzert, das jedes noch so kleine Geräusch einfach assimilierte und in sich aufsog, eine unförmige Masse an Tönen, die immer weiter, über alle Momente hinweg, über sich selbst hinauszuwuchern schien.
Die Fließbänder liefen Amok, während die Waren auf ihnen von Roboterarmen bearbeitet wurden. Dazwischen: Johnny, der sich am Kopf kratzte und laut gähnen musste. Darauf: erboste Blicke des Aufsehers, der von oben in seinem sauberen und bequemen Glaskasten auf die Fabriketage hinabblickte. Johnny schaute nicht nach oben und bemerkte den Blick nicht. Auch gut. Nicht jeder Blick sollte erblickt werden. Johnny arbeitete, und da konnte er nicht ständig nach oben oder nach hinten oder sonstwohin schauen. Er schaute auf das Fließband. Er gähnte noch einmal. Seine Hände machten die Arbeit von allein.
Der Rhythmus und die Routine steckten ihm hier im Blut, wenngleich nicht vererbt, sondern antrainiert. Stundenlang das gleiche zu tun, und das dann jeden Tag aufs neue, das machte schon etwas mit einem, und egal wie grün - grün! - einer am Anfang hinter den Ohren auch war, nach ein paar Schichten war davon nichts mehr zu spüren und zu sehen. Der Ruß und das Maschinenöl waren schwarz.
Jetzt erreichte das nächste Produkt Johnnys Station. Eine Konservendose. Eine schöne, glänzende, grüne Konserve - vielleicht die schönste Konserve, die Johnny je gesehen hatte, denn Johnny war gewissermaßen ein Konservenexperte, niemand kannte Konserven besser als er, niemand wusste mehr über Konserven als Johnny. Ganz real betrachtet sahen sie natürlich alle identisch aus, und dieses tolle Kompliment, das Johnny seiner aktuellen Dose zugesprochen hatte, trug eigentlich überhaupt keine Aussagekraft in sich. Naja. Nicht jede Aussage musste Kraft haben. Johnny zum Beispiel hatte auch wenig Kraft, aber sein Körper, im wesentlichen seine Händchen und Ärmchen, machten schon von ganz allein, was sie zu tun hatten. Johnny wusste in seinem Kopf gar nicht recht, was genau dieses etwas war, was er hier tat. Sein Oberstübchen schaltete in eine Art Stand-by, wenn er die Konserven bearbeitete. Das war ganz angenehm, weil dann das ewige statische Fritzel-Fratzel verstummte, oder, wie er vermutete, zumindest nicht von ihm wahrgenommen wurde. Hinterher wusste er zumindest, dass er eine Menge Konservendosen bearbeitet und verarbeitet hatte. Das war doch immerhin etwas. Etwas - das war in den Dosen. Johnny glaubte, niemand wusste so recht, was überhaupt in den Dosen war. Aber etwas musste man ja essen, und wenn die Natur so großflächig einfach aufgegeben hatte, musste man eben etwas in die Dosen und von dort aus in den Mund stecken. So gesehen war Johnnys Arbeit ein Dienst an der Menschheit. Bloß wusste Johnny nicht recht, ob er der Menschheit überhaupt dienen wollte.
Wofür brauchte man überhaupt jemanden wie ihn, einen Menschen, zwischen all den Generatoren und Fließbändern und Roboterarmen, in dieser beinahe eigenständig atmenden Maschinerie, wo er und die handvoll anderen Arbeiter mit ihren Fleischkörpern ein Fremdkörper waren, eine verlorene Schraube zwischen den Zahnrädern, die er fortwährend rattern und klackern hören konnte.
Wenn er gehen würde, würde dann dieses Klackern aufhören? Es würde in seinem Kopf nachhallen wie immer nach Schichtende, aber irgendwann würde er es nicht mehr hören. Niemand wäre dann da, am Fließband, um es zu hören, und vielleicht existierte so etwas wie das Klackern der Zahnräder nur dann, wenn es wahrgenommen wurde, und vielleicht verhielt - vielleicht verhielt es sich mit Johnny ganz ähnlich; wenn er irgendwann nicht mehr wahrgenommen würde, wenn er aufhören würde, sich selbst wahrzunehmen, vielleicht würde auch er dann einfach zu existieren aufhören. Das war ein interessanter Gedanke. Nun, das war ein Gedanke. Nur grün war er nicht. Gedanken konnten nicht grün sein. Nein, das konnten sie nicht. Da war Johnny sich relativ sicher.


Ein anderer Moment.
Johnny stand im Park. Ja, er stand im Park. Er starrte fast reglos geradeaus, über die verdorrten und verkrüppelten Gewächse hinweg, um die sich niemand mehr kümmerte, und hinweg über das außergewöhnlich satte saftige knallgrüne Gras, um das sich zwar auch niemand kümmerte, das sich aber offensichtlich ganz gut um sich selbst kümmern konnte, denn sonst würde es ja nicht so strahlen und wachsen und gedeihen. Das Gras war, so schien es immer mehr, der einzige Profiteur der Situation, es hatte alle bunten Blumen und alle größeren Pflanzen verschluckt und vernichtet und durch diesen einfarbigen, grün strahlenden Teppich ersetzt, nur die Bäume nicht, die machten sich selber den Garaus, das konnte man sehen.
Über all das hinweg starrte er, der Blick traf die Wolkendecke irgendwo da, wo keine Häuserdächer mehr waren. Er wartete auf etwas. Johnny wartete auf etwas.

Eine ältere Dame mit zerknittertem Filzhut auf dem Kopf stieß Johnny an.
“Haben Sie den Turm gesehen?”
Johnny schreckte hoch und starrte die Frau entgeistert an. Der Park war normalerweise leer. Wenn Menschen Grün sehen wollten, konnten sie dafür zuhause bleiben. Oder die Augen schließen. Aber hier war nun doch jemand, und sie hatte ihn allen Ernstes gerade angesprochen? So etwas gab es noch? Einfach so?
“Welchen Turm?”, fragte Johnny, sichtlich um Fassung kämpfend.
“Nummer 32.”
“Der wird gerade noch gebaut. Soweit ich weiß.”, ergänzte er schnell. Was er so wusste, ging diese Fremde eigentlich gar nichts an, aber er hatte es ihr jetzt trotzdem gesagt. Nützte nichts. Nützte alles nichts.
Die Frau ließ nicht locker. “Mein Enkel Altop sagt aber, sie haben den Turm fertiggebaut vergangenen Monat.”
“Bis Etage 100?”
“Bis Etage 100.” Sie nickte resolut, was ihren kleinen Kopf auf dem zu langen Hals aussehen ließ wie ein unförmiger Fleischjojo.
“Aha. Der Eingang ist wohl da drüben.”, erwiderte er in der Hoffnung, das Gespräch sei damit zu Ende.
“Wo?”, fragte die Alte und zeigte mit ihrem krummen Finger auf einen verdorrten Stumpf.
“Nicht da.”
“Da?”, fragte sie und zeigte woanders hin.
“Nein.”
“Wer weiß so etwas schon. Wollen Sie es mir nicht zeigen?” Ohne auf eine Antwort zu warten, hakte die Alte sich Johnny unter und Johnny (Jonnäh! hallte es in seinem Kopf) blieb nichts anderes übrig, als sie die paar Schritte zu führen bis hin zu einem verdorrten Gehölz in der Mitte eines ansonsten sehr grünen Grünstreifens.
“Sie müssen drei Mal auf Holz klopfen.”, erinnerte Johnny die Frau, die sich bedankte und kurz darauf durch das sich vor ihr öffnende Treppenhaus  im Boden verschwand. Johnny schaute ihr nach, bis der Boden wieder geschlossen war. Er fand solche alten Leute unheimlich. Sie hielten sich kaum an die Verhaltensnormen. Sie schienen einfach nicht zu verstehen, was eigentlich gerade vor sich ging, was Sache war - nämlich, dass überhaupt nichts Sache war. An Arm und Hüfte, wo sie ihn ungeniert berührt hatte, brannte das Gefühl von Druck nach, es brannte lichterloh, wenn auch kurz. Johnny wusste nicht mehr, wann er das letzte Mal Körperkontakt mit jemandem gehabt hatte.

Johnny ging zurück an den Ort, an dem er zu Gesprächsbeginn gestanden hatte. Genau dort, mitten auf den Gehsteig, parkte er seinen Körper erneut und starrte gebannt in Richtung Osten. Er wartete noch immer auf etwas. Das war eine Moment-übergreifende Tätigkeit, die ganz real darin bestand, dass er eben herumstand und erst einmal überhaupt nichts tat.
Er wartete auf die Sonne.
Die Sonne war eine brennende Kugel, nicht wahr, die ebenso wie die alte und die neue Erde im leeren, schwarzen Nichts herumkullerte im Murmelspiel der Götter, nicht wahr? Wahr. Und Johnny wollte sie gerne heute sehen, was daran lag, dass das Magazin erzählt hatte, sie würde manchmal - Achtung, Herzinfarkt! - rot ausschauen. Nicht grün also, sondern rot.
Das Magazin, das in jenem Moment ausnahmsweise unmittelbar an der Ecke gleich vor dem Stockhaus herumgelungert hatte, in dem Johnny lebte, hatte ihm auch andere ganz abenteuerliche Dinge erzählt. Zum Beispiel nämlich, dass der Kongress der Insektenforscher aufgelöst worden sei. Das fand Johnny albern, weil ihm gar nicht recht bewusst war, was überhaupt ein Insekt sein sollte. Ein Insekt? Fragt ihn was leichteres.
Anderes Beispiel, das Magazin erzählte immer wieder, dass manch ein Philosoph sich für einen Propheten hielte und über das wahrhaftige Ende der Welt spräche. Dieses Mal aber wirklich!, so war dem Magazin zufolge der exakte Wortlaut, und das fand Johnny, ohne recht sagen zu können, woran es läge, überhaupt nicht lustig. 

Johnny wollte einfach nicht lachen. Nicht lachen. Er wollte einfach nur schreien, aber es kam nicht aus ihm heraus. Manche andere taten das ab und zu, man konnte es hören durch die dünnen Wände und grünen Scheiben, der Schrei war meist nur kurz, aber treffsicher auf irgendeiner unbenannten Note angesiedelt; dann, ganz abrupt, wie er auch begonnen hatte, verstummte er wieder und es war, als wäre nie etwas gewesen. Das waren aber Schreie mit einer hohen Dichte sozusagen. Ganz anders als damals. Bei manchen musste das seitdem einfach immer wieder sein, wie wenn ein Ventil scheußlich unter Druck steht und dann zwangsläufig Peng machen muss. Nicht aber jetzt. Nicht bei Johnny. Er spürte den Druck, aber er war nicht hoch genug, es kam einfach seitdem kein Schrei heraus aus seiner Kehle. Jetzt wollte er auch gar nicht zu schreien versuchen, sondern gerne testen, ob denn wirklich die Sonne manchmal ganz und gar als rot erscheinen könne, und deswegen starrte er gebannt in den Osten jenseits des Grases und des Gehölz und jenseits auch der Häuser da drüben mit ihren smaragdgrünen, aber furchtbar verrußten Dächern. Darüber sollte etwas Rotes kommen, und darauf wartete Johnny.
Etwas regte sich. Etwas wachte auf. Dieses Etwas reckte und streckte sich und lugte aus seinem Loch hervor, dann stand es auf.
Es war grün.

Johnny ließ die Arme hängen und sah beschämt zu Boden. Wie hatte er nur so naiv sein können! Rot. Was sollte das überhaupt bedeuten? Er wusste gar nicht mehr so genau, wie das aussehen sollte. Die Sonne war doch schon immer grün gewesen - oder? Albern. Er hatte sich einen Augenblick nicht unter Kontrolle gehabt, hatte sich hinreißen lassen zu kindischen Tagträumereien, und alles, was er davon nun hatte, war Enttäuschung über die Welt und sich selbst. Die Sonne war rund und grün und -Was war das? Ein kleines Etwas landete auf seiner Hand. Er hob sie langsam vor seine Augen und fokussierte den Blick auf dieses unwahrscheinlich kleine Etwas, ein grünlich schimmerndes Ding mit vier Beinen und, wie es schien, zwei Antennen für Funk. Aber die Stimme des Großmajors hörte er nicht aus ihnen herausschallen. Also kein Funk? Er beobachtete fasziniert, wie es auf seiner kalten Hand dreieinhalb Schritte machte - Johnny war sich nicht sicher, was bei einem Ding mit vier Beinen genau als Schritt galt -, sich zu ihm umdrehte und sich dann über seinen Kopf hinweg in die Luft absetzte, wo Johnny es aus dem Blick verlor, weil er ein Mensch war und somit keine Augen im Hinterkopf trug.
Das eben war, da war er sich beinahe sicher, ein Insekt. Es gab Insekten. Die Sonne war grün, das hätte er wissen müssen, aber vielleicht hatte er sich an anderer Stelle geirrt. Wenn es Insekten gab, dann waren auch Insektenforscher real und konnten ihren Kongress tatsächlich auflösen. Johnny wartete nicht darauf, dass die Sonne - die grüne Sonne - gänzlich aufging, sondern machte sich strammen Schrittes auf den Weg nach Hause, wo gewiss das Magazin noch immer auf der Straßenecke stehen würde. Er war wütend. Johnny war wütend. Er wusste nicht ganz genau warum, aber er war wütend. Er würde dem Magazin ein wenig mehr auf den Zahn fühlen.


Johnny (Schnällar Jonnäh, schnällar!) marschierte auf der Stelle und starrte in die toten Augen des grünen Großmajors im Fernsehen. Draußen war es windig. Johnny glaubte, es müsste aktuell Herbst sein, aber der Herbst ließ sich nur kaum vor den schmalen Fensterreihen blicken, die die Fassade durchzogen wie das Gekrakel eines Kindes.
Jonnäh, stillgästandn!”
Johnny blieb stehen. Ein einsames Blatt taumelte dramatisch hinab in seinen Tod und war für wenige Augenblicke durch das dicke Uranglas als verschmierter Fleck zu sehen. Johnny beobachtete dieses Schauspiel aus den Augenwinkeln und wurde davon einen Moment lang völlig abgelenkt. Das Blatt musste steinalt sein, viele, viele Momente alt! Es konnte ja nicht frisch von einem Baum gefallen sein, es musste sich auf dem Dach eines Hauses, in einer Nische oder sonstwo versteckt haben und erst jetzt von einem gezielten Schuss des Windes fortgerissen worden sein. Fortgerissen in den Tod.
Jonnäh! Marsch, marsch!”
Johnny marschierte. Und in seinem Kopf bildete sich ein Origami aus Sinneseindrücken, deren Herkunft er nicht recht einordnen konnte, aber er wusste zumindest, dass es die Eindrücke von jemandem waren. Er dachte wieder an die alte Dame im Park und ihren Neffen (oder war es Enkel?), der ihr gesagt hatte, sie solle zu diesem neuen Turm kommen. Er dachte an den werten Herrn Nachbarn und an die Elefanten und die Wale und die Bäume. Sie tanzten in seinem Kopf einen Reigen, oder sie liefen einfach nur auf und ab, das ließ sich schwer unterscheiden. Das war ein Anblick! Darunter war auch sie, jene Frau von damals, deren Gesicht er genau vor sich sah, mit Ausnahme ihrer Augen. Dann reihte sich in dieses Spiel ein anderes Gesicht an, ein grässliches grünes Gesicht, das ihm nur allzu bekannt war. Es lachte einmal laut auf, was Johnny aber nicht allzu lustig fand. Sehr unlustig sogar. Ihm war eigentlich nach Schreien. 
Jonnäh! Marsch schnellar! Har-har, immer schön im Takt.”


Er hatte dem Magazin gehörig auf die Schnauze gegeben. Er hörte es im Nebenraum leise in der Ecke weinen. Auch gut. Es hatte ja alles andere nichts genützt. Das Magazin heulte. Der Fernseher war nun aus - hoffentlich hatte der Großmajor, dieser respektable und monströse Mann, nicht das Heulen gehört. Das wäre schlecht. Johnny, sagte er sich, das wäre schlecht. Aber vieles war schlecht heutzutage. Zum Beispiel war Johnny kurz nach dem Moment, in dem er im Park auf die rote Sonne (rot, wie lächerlich!) gewartet hatte, da war Johnny auf einen steinalten Apfel getreten. Oder eine Birne. So oder so, der Umstand selbst war schlecht, weil ihm das tote Ding am Stiefel hochgespritzt war und dessen Grün mit seinem Braun besudelte, aber das Ding an sich musste wohl auch schon außerordentlich schlecht gewesen sein, also schlecht geworden, denn sonst hätte es bei Feindkontakt nicht derart reagieren müssen. Wenn aber etwas schlecht ist, muss es so reagieren. Muss es einfach.
Das Magazin heulte nebenan. Johnny seufzte. Er wollte sich auch gerne einmal so richtig gehen lassen wie dieses Magazin im Nebenraum und sich einfach mal so die Kehle taubschreien. Die Energie und die Wut und die ganz reale Verzweiflung, die ein Menschenwesen dafür brauchte, die hatte er definitiv in sich, er spürte es in sich brodeln - nicht nur im Hexenkessel Bauch, sondern überall, auch unter seiner Haut, an den Armen und Beinen und überall sonst, sodass er fast versucht war, sie sich aufzuschneiden und nachzusehen, was denn da überhaupt so ein Unbehagen verursachte. Es war in ihm durch und durch, das Schreien, es war ein Teil von ihm.

Einmal so richtig schreien. Das hatte er nur ein einziges Mal getan. In jenem Moment. Alle hatten es getan, natürlich hatte auch Johnny es getan. Das war nichts besonderes. Aber JETZT das nochmal so zu tun, ganz eigenständig, dazu gehörte ernsthafte Größe, und er war sich nicht sicher, ob er diese Größe in sich trug. Er war damals tatsächlich einer der letzten gewesen, die verstummt waren. Er wusste noch immer ganz genau, wie sich das angefühlt hatte. Immerhin eine Sache, die er wirklich wusste. Mit einem Schlag war ihm einfach nicht mehr danach gewesen. Eine unheimliche Stille hatte sich über ihn gelegt, hatte seine Knie wackelig gemacht und seine Kehle zu Süßpudding, aus der nichts mehr herauskam außer vielleicht ab und zu ein Schmatzen.
Er hatte an einer Straßenkreuzung gestanden und auf die Ampel gewartet - auf Grün, verstand sich schon damals - als es losging. Er war abrupt stehen geblieben, alle anderen um ihn her auch. Und dann schrien sie. Johnny schrie und alle um ihn her schrien. Sie schrien. Keiner rührte sich und alle standen einfach so da mit weit aufgerissenem Mund und weit aufgerissenen Augen. Es war ohrenbetäubend laut, aber Johnny konnte sich einfach nicht dazu bringen, die Hände auf die Ohren zu pressen, geschweige denn, selber den Mund zu halten. Er war gezwungen, zuzuhören und mitzumachen in diesem Gesang, der das Ende und den Anfang und das Dazwischen und den großen Umbruch, das große Anders ankündigte. Nichts, absolut nichts würde so sein, wie es war. Und damit hatte er recht behalten.
Momente und Momente verstrichen, und langsam hörten hier und da die ersten Menschen einfach auf - mit einem Schlag verstummten sie, schienen aus einer Trance aufzuwachen, schüttelten sich, schauten sich befremdet um und gingen zögerlich in irgendeine unbedeutende Richtung davon.
Noch immer stand Johnny da und schrie, schrie, schrie sich die Seele aus dem Leib. Auf der anderen Straßenseite standen ebenso Leute, und irgendwie kreuzten sich seine Blicke mit den Blicken von jemand anderem. 

Da stand eine junge Frau - vielleicht etwas jünger als er, insgesamt etwas blasse Haut, kurze braune Haare, aber das war egal -, und auch sie tat nichts anderes als Johnny. Sie schrie. Ihre Blicke trafen sich und blieben irgendwie aneinander kleben. Klebrige Blicke waren das. Ihre Augen klebten sich in diesem scheußlichen Moment in Johnnys Kopf fest, und da waren sie noch immer.
Was für Augen! Was für ein Blick! Nicht in einem romantischen Sinne, sondern in einem verstörenden, einem traumatisierenden Sinne. Diese Augen! Diese ahnungslosen, verängstigt herumhuschenden Pupillen! Das waren keine Menschenaugen, dort in diesem ewigen Moment. Das waren die Augen eines Tieres, eines gehetzten, gejagten Beutetiers, in dem der urtümlichste Instinkt zur Flucht! Flucht! Flucht! mit der Kraft einer Kanonenkugel eingeschlagen war und alles andere, was dieses Tier, diese Frau ausmachte, überschrieb. Da war nichts außer die Orientierungslosigkeit. Nichts als die Orientierungslosigkeit und die Angst.
Es waren nicht diese seltsamen Bomben, die nicht real waren und die keiner sah, es war nicht das Kakophonieorchester der schreienden Meute, das ihn so geprägt hatte, es war der Blick dieser Frau, der Johnny nachhaltig gezeichnet und zu dem gemacht hatte, der er heute war oder zu sein glaubte.
Zuletzt hatte auch die Frau sich losgerissen aus diesem Zustand, hatte sich desorientiert umgeschaut und war ihres Weges gegangen. Zurück blieb Johnny, der einfach nicht zu schreien aufhören konnte. Immer mehr Menschen rissen sich los und gingen weiter oder zurück, hauptsache weg, aber er stand da noch immer und schrie. Er konnte einfach nicht aufhören. Irgendwann konnte er es aber doch. Es ging ganz schnell. Mit einem Schlag. Er wusste auch nicht, warum. Er war an dieser Kreuzung der Letzte gewesen. Die Straße war bereits wie leergefegt. Sie alle waren gegangen und hatten sich verkrochen, ohne recht zu wissen warum. Warum? Das fragt man nicht! Johnny war auch umgekehrt und nach Hause gegangen.
Was blieb, war nichts, weil alles anders war als vorher. Was blieb, war der schreckliche Blick der Frau, den er genau kannte, obwohl er ihn nie wiedersah. Nicht einmal im Schlaf. Johnny träumte nicht. Er träumte nie. Ob das den anderen da draußen auch so ging? Ging es ihnen allen gleich? Johnny war sich jedenfalls fast sicher: Exakt so, wie die Frau auf der anderen Straßenseite geschaut hatte, hatte auch er in diesem Moment geschaut. Wie ein gehetztes Tier.


Als Johnny den Abstellraum betrat, hatte sich das Magazin gerade eben erbrochen. Eine schimmernde grünliche Lache deckte eine der hinteren Ecken des Raums ein. Grün. Die Lache war grün.
"Was willst du denn?", heulte das Magazin, als es Johnnys Silhouette im Türrahmen sah. "Ich habe dir doch schon alles - ALLES gesagt!"
"Nein.", sagte Johnny und schloss die Tür hinter sich. Es war dunkel im Raum. Ohne zu sehen, drückte er auf einen Schalter an der Wand und eine nackte Glühbirne, die einfach so am Kabel von der Decke hing, erleuchtete den Raum mit sanftem, fast zu schwachem Licht. Das Licht war grün. Grün.
Nun war es so, dass die Kanten von Johnnys Sein nicht ansatzweise ausgeglättet waren, keiner hatte ihn einmal bei der Schulter ergriffen und mit einem Bügeleisen bearbeitet, und so kam es, dass in ihm, wie realistisch betrachtet in praktisch jedem Menschen, eine gewisse Wut und Zügellosigkeit existierte. Diese waren dafür verantwortlich, dass das Magazin bereits so übel zugerichtet war. Die Augen beide blau und etwas angeschwollen, ein Finger ungesund verdreht, die ganze Charakterstärke dieser erbärmlichen Gestalt aus dem Leib gewichen. Das war Johnnys Werk. Jetzt noch einmal.
"Was weißt du?", fragte er.
"Ich weiß überhaupt nichts!"
"Woher weißt du das?", hakte Johnny nach.
"Weil man es mir sagt! Alles, was ich sage, sage ich, weil es jemand anderes weiß. Ehrlich, Mister! Mister! Bitte!"
Johnny hockte sich unmittelbar vor diese Gestalt, sodass er einen unheimlichen Schatten warf, der das schummrige Grün des Raums durchschnitt. "Aber woher weißt du das?"
"Ich mache doch nur meinen Job! Mein Vater hat mir gesagt: Junge, du wirst Zeitungsjunge, und seitdem bin ich das! Jetzt nennt man es halt Magazin!" Es rückte noch etwas weiter in die Ecke des Zimmers, wo seine grüne Schiebermütze lag.
Johnny dachte darüber nach. Aber eigentlich auch nicht. "Woher weißt du das dann?"
Das Magazin schaute verwirrt. "Was meinen Sie, Mister, ich verstehe nicht! Bitte!"
"Na das eben."
"Das?"
"Das! Sag es mir! Wieso ist alles so, wie es ist??”
“Es ist halt so! Es ist halt so!”
Johnny stand wieder auf und warf dem Magazin einen verächtlichen Blick zu. Er wusste auch nicht recht, warum. Er wurde sich in diesem Moment bewusst, dass er auch nicht recht wusste, warum. Warum? Was tat er hier eigentlich? Prügelte er gerade einen Menschen, ein Magazin, wegen einem Insekt, das ihm einmal in einem anderen Moment auf der Hand gelandet war? Was war hier seine Mission?
Er taumelte zurück, plötzlich von seinen Taten erschreckt und verwirrt, und stützte sich einen Moment an der klammen Wand ab. Ihm war schwindelig im Kopf. Als er sich etwas berappelt hatte, ging er rückwärts Richtung Tür, ohne das Magazin aus den Augen zu lassen, stieß mit dem Rücken gegen die Klinke, wirbelte herum, drückte sie herunter, stieß die Tür auf und machte sie hinter sich wieder zu. Das Licht - das grüne, grüne Licht in der Kammer - ließ er an.

Johnny hielt es in der eigenen Wohnung nicht aus. Er machte einen großen Schritt über den Herrn Nachbar, stolperte die Treppe herab, hinaus auf die Straße und dann immer weiter geradeaus. In der Ferne war das Geräusch von Nichts, ansonsten war es ganz still und leer. Die Straße war leer. Johnny knibbelte sich an den Fingernägeln, kratzte sich am Kopf, er betrachtete sich in einer grünlichen Pfütze, auf die er zuging. War das nicht etwas, was man tun sollte in Momenten, in denen man die Krise kriegte? Sich selbst betrachten und ruhig werden, oder so etwas Ähnliches? Er schaute in die Pfütze, aber er konnte nichts richtiges erkennen. Da war ein Schemen in Form von Johnny und in Form von Johnnys Kopf, aber ein leichter Wind prustete noch immer die Straße entlang und bewegte das Wasser der Pfütze und verwischte das Spiegelbild von Johnny, sodass es gar kein Spiegelbild war und er sich gar nicht betrachten und dadurch ruhig werden konnte; ganz im Gegenteil, die mangelnde Fähigkeit, wenigstens sich selber klar zu sehen trieb ihn noch viel stärker in den Wahn und in die Panik. Also - er knibbelte sich an den Nägeln und kratzte sich am Kopf, aber sein Spiegelbild betrachtete er nicht. Immerhin. Er war eben nervös. Johnny war nervös. Nervös! Warum denn auch nicht?Um eine Kurve gebogen kam ein hochgewachsener Mann, der hinter sich einen Essenskarren über den Asphalt zog.
"Konserven. Frische Konserven." Johnny ging weiter. “Heda, Mann, frische Konserven.” Johnny ging weiter. Er kannte das Unternehmen. Er arbeitete dort. Die Dosen, eben diese Dosen auf dem Karren, hatte er vielleicht selber verpackt, naja, bearbeitet, jedenfalls sowas in die Richtung.
“Dann nicht, Mann.”, stieß der hochgewachsene Kerl zwischen den Zähnen aus und holperte an Johnny vorbei die Straße entlang. Das Holpern der Metallräder auf dem unebenen Asphalt brannte sich aus irgendeinem Grund in Johnnys Kopf ein und verfolgte ihn, sodass er sich irgendwann umdrehte, aber der Karren und der Kerl waren schon längst verschwunden, nur das Holpern und Poltern war geblieben. Es vermischte sich in seinem Kopf mit dem Bild, wie Johnny höchstselbst das Magazin verhaute, und jeder Schlag und jede Schelle reihte sich synchron ein mit dem Holpern der Metallräder auf dem unebenen Asphalt. Unangenehm. So war das eben. Unfassbar unangenehm.
Einige Momente schleppte Johnny sich weiter, weiter durch die weitestgehend verlassenen Straßen, hier um eine Kurve und dort, ganz von alleine bewegte er sich fort, sein Kopf war ganz ausgeschaltet - oder zumindest ganz woanders beschäftigt. So genau ließ sich das nicht sagen. Aber der Körper lief ganz von alleine und deshalb sehr richtungslos, das ließ sich genau sagen. Immerhin etwas - nicht viel, aber etwas. 

Weitere Momente verstrichen und Johnny stolperten hier und da andere Menschen entgegen, freilich niemand, den er kannte oder der ihn kannte - dann wiederum war das schwer zu sagen, weil Johnny niemandem so richtig ins Gesicht schaute, in die Augen sowieso schon gar nicht, das war auch klar, das war jedem klar, auch den Kindern, wirklich jedem war klar, dass die Augen tabu waren. Außerdem: Wen kannte Johnny überhaupt? Und wer kannte Johnny? Nein, Johnny schaute auf den Boden vor ihm und auf die durchgelaufenen Stiefel an seinen Füßen, von denen gleichmäßig die eine Seite vorschoss, dann die andere, dann wieder die erste und immer so weiter, während sein Körper sich durch die Straßen der Stadt manövrierte.
Dann blieb er stehen.
Vor ihm waren Menschen.

Nicht ein Mensch und nicht zwei, sondern einige. Eine oder auch zwei Hände voll Menschen, eine Ansammlung von Menschen, und alle waren dicht beieinander, auf einen Haufen gedrängt. Sie befanden sich mitten auf der Straße, es fuhr sowieso kein Auto, praktisch nie fuhr eines.
Und sie tanzten.
Das waren Menschen, in diesem Moment, und sie tanzten. Wahnsinn war das. Völliger Wahnsinn.
Johnny stand auf einiger Distanz und schaute dem absurden Schauspiel zu. Das war kein Paartanz, sondern ein völlig enthemmtes, regelloses Herumtanzen. Jeder einzelne Mensch da vorne hatte irgendwie seinen eigenen Rhythmus, jeder seinen eigenen, die zusammen ein grausam chaotisches Bild ergaben, aber Rhythmus war in jedem Einzelnen zu erkennen. Musik spielte keine. Die da vorne tanzten allen Ernstes so wild und hatten nicht einmal Musik dazu.
Eine war zum Beispiel unter ihnen, die hatte langes Haar, feuerrotes Haar, zu einem Zopf gebunden, die riss ihren Kopf herum und der Zopf wurde im Gleichtakt zu ihrem Rhythmus mit herumgerissen, die Frau drehte tanzend Kreise um die anderen Tänzer, umrundete sie, rundete sie ein. Sie stampfte immer wieder mit aller Härte auf - da bemerkte Johnny erst, dass sie barfuß war - und verzog dabei ihr Gesicht zu einer wilden Fratze, ohne aber hässlich zu werden. Schließlich riss sie das Gummiband von ihrem Zopf und befreite das Haar, ohne den Tanz zu unterbrechen. Die rote Mähne, die sich dabei befreite, ließ Johnny endlich erkennen: Das war ein Raubtier vor ihm, eigentlich eine Wölfin im Menschenkörper. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Jetzt glaubte er, auch in den anderen Gesichtern Tiere erkennen zu können, wenn auch weniger wild als die rote Wölfin, die noch immer ihre Kreise um die anderen zog. Überhaupt - er betrachtete sie nicht so eingehend, weil sie ihm gefiel, sondern weil sie ihm einfach AUFfiel. Es war einerlei. Johnny drängte sich die Frage auf, ob die Tänzer denn bei Verstand sein konnten. Konnte es sein, dass es Menschen gab, die völlig bei Verstand waren, sich ihrer selbst bewusst waren und dann so etwas taten?
“Ich glaube sogar, das sind die Vernünftigsten von uns allen.”
Johnny wirbelte herum zu einem älteren Herrn im hellgrünen Anzug, der neben ihm stand und sich praktisch angeschlichen haben musste. Anscheinend hatte Johnny seinen letzten Gedanken laut ausgesprochen.
“Ich meine die Tänzer da vorne.”, ergänzte der Kerl auf Johnnys irren Blick hin.
“Achso. Hm. Nein. Ich weiß nicht.”, antwortete Johnny schließlich.
“Ich weiß auch nicht. Deswegen sage ich ja, ich glaube.
Johnny warf seinen Blick wieder in die Menge einige Meter vor ihm. “Achso. Okay.”
Eine Weile standen die beiden so nebeneinander und schwiegen sich an. Johnny dachte nach, was er sagen könnte, um den Anderen loszuwerden. Das gab es doch gar nicht mehr, dass da einer einen einfach so ansprach ohne Anlass.
“He, was ist denn mit der Hand passiert?”, fragte da der Anzugträger plötzlich. Johnny hob seine Rechte und stellte entgeistert fest, dass die Knöchel übel blutig und etwas angeschwollen waren. Na, das kam davon, wenn man mir nichts, dir nichts, herumging und unschuldige Magazine verhaute, bloß weil sie ihren Job machten.
“Ist egal.”, sagte Johnny und hoffte, der andere würde ihn jetzt endlich in Frieden und in Ruhe lassen. Das tat er dann auch.
“Ich glaube, ich geselle mich zu denen.”, erklärte er. Johnny (Jonnäh! Marschieren!) wirbelte herum, und ehe er fragen konnte, warum zum Teufel das jemand jemals unter jeglichen Umständen tun sollte (aha, JETZT war er bereit, ein Gespräch zu führen!), setzte sich der ältere Herr in seinem grünen Anzug bereits in Bewegung. Johnny folgte ihm mit seinen Augen die paar zögerlichen Schritte bis zu den Tänzern. Er stand da einen Moment etwas ratlos, dann wackelte er mit den Armen, dann stampfte er einmal zögerlich auf und schaute sich nervös um - keiner der Tänzer beachtete ihn. Nur Johnny aus seiner sicheren Entfernung, aber Johnny war eben kein Tänzer, bloß nicht!
Ein Wandel durchlief den Körper des Anzugträgers. Er riss den Kopf zurück und klopfte sich auf die Schenkel. Dann riss er einen Arm in die Luft, ließ den anderen vor und zurückschwenken und war schon einer von ihnen. Der ältere Herr stand gerade noch neben Johnny, und jetzt war er einer der Tänzer und war schon nicht mehr von den anderen Leuten da vorne zu unterscheiden.
Johnny riss sich nun von dem Anblick los und wich beinahe entsetzt zurück. Ob das wohl ansteckend war, das Tanzen?
Er bog schnell in eine Seitengasse ab, in der ihn die gewohnte Menschenleere begrüßte und kalt umfing. So sollte das sein. So war das normal. Wussten denn diese Leute nicht, was Sache war? Spürten sie nicht dieses - dieses - dieses Argh und Brang und Krark in ihrem Kopf? Wie konnte man denn angesichts davon tanzen? Wahnsinn, versicherte er sich noch einmal, völliger Wahnsinn. Und damit war die Sache für ihn geklärt.

Als Johnny am anderen Ende der Gasse wieder auf die offene Straße hinaustrat, wusste er, dass er nach Hause gehen musste. Das Magazin gammelte da noch in der Ecke und es war Zeit, es herauszulassen, es nützte ja nichts, es nützte ja alles nichts, es nützte niemals jemals irgendetwas. Das war das. Das Magazin hatte er verprügelt, ganz ohne Grund, und daran ließ sich nichts ändern. Nun, nicht ganz ohne Grund, aber nicht mit genug Grund, so war das. Genau. In Johnnys Kopf baute sich unterdessen das statische Fratzeln auf, das er sowieso kannte, das in Dauerschleife sein Gehirn umwickelte, Fritzel-Fratzel, aber jetzt wurde es noch stärker als sonst. So war das manchmal.
Selbst schuld war das Magazin, das Magazin war schuld. Warum erzählte es auch so grausige Dinge über die Welt? Wenn es solche Dinge alle wusste, und alle anderen wussten diese Dinge nur durch es, dann war es ja vielleicht selbst dafür verantwortlich, dass die Welt so war, wie sie war. Vielleicht hatte dieses ekelige, ekelige Magazin in jenem großen Moment selber diese Bomben, diese metaphorischen Bomben gezündet und den Sinn ins Jenseits befördert! Johnnys Kopf machte Pirouetten. Dieses Magazin! Es nützte nichts! Gar nichts! Grün, alles grün! GRÜN! Marsch, Jonnäh, marsch! Ganz recht so, Herr Großmajor, dann marschiere ich eben! Und Johnny marschierte heimwärts. Was denn auch, wenn ich es nicht täte? Was täte ich denn dann? Wer wäre ich, wenn ich es nicht täte? Ein Nicht-Täter, und alles ist grün, und aus meinen Ohren wächst das Gestrüpp - wieso ist alles grün, nur die Bäume nicht? Nur die Bäume sind grau und tot, was wissen die Bäume, was ich nicht weiß? Was wissen die Tänzer, diese wahnsinnigen Tänzer, Tänzer, Tänzer, was ich nicht weiß? Wissen die was? Warum machen die das? Weil sie wahnsinnig sind, wahnsinnig, aber ich bin -

Ohne dass Johnny stehen blieb, hielt er inne. Er hielt in seinem Kopf inne. Das statische Fratzeln ebbte ab. Auf der anderen Straßenseite war eine Bar. Da stand eine Person davor, eine Frau. Sie rauchte. Sie kam Johnny bekannt vor. Er kannte sie. Sein Atem stockte, sein Schritt blieb gleich.
Es war sie.
Sie war es.
Ohne Zweifel.
Sie stand da, auf der anderen Straßenseite, unsicher an die Fensterfront aus Uranglas gelehnt und rauchte. Johnny lief weiter. Er wurde nicht einmal langsamer. Er musste seinen Kopf immer mehr drehen, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Sie schaute auf, ihre Blicke trafen sich. Das waren die Augen. Genau diese Augen. Ein etwas anderer Blick, aber diese Augen. Johnny tat alles weh. Johnny begann zu schwitzen. Er lief weiter. Sie schaute weiter zu ihm herüber. Erkannte sie ihn? Johnnys Beine liefen weiter. Sie trat, ohne ihren Blick von Johnny abzuwenden, ihre Zigarette auf dem Schotterstein aus, wandte sich ab und trat langsam in die Bar. Johnny lief weiter. Er ließ die Bar hinter sich. Er hatte sie gesehen.


Und Johnny marschierte. Der grüne Großmajor im Fernseher gab sich gewohnt streng, ein Hampelmann in altmodischer Militäraufmachung, eine Absurdität in Person, aber was war schon absurd, wenn alles absurd war?
“Oh Jonnäh Boy, the pipes, the pipes are calling!”, sang er mit einem unmenschlichen dämonischen Glitzern in den Augen. Er war in diesem Moment offensichtlich noch besser gelaunt, noch boshafter als sonst. Das verhielt sich antiproportional zu Johnny. Johnny ging es miserabel. Aber er marschierte. Es blieb ihm wenig anderes übrig.
Er hatte das Magazin geistesabwesend - soll heißen, geistesabwesender als sonst - aus der Abstellkammer herausgelassen, wortlos die Tür aufgehalten, bis der Kollege sich getraut hatte, auf den Flur herauszutreten und dann über den reglosen Herrn Nachbarn hinüberzusteigen und im Treppenhaus zu verschwinden. Mit ihm war auch das Wimmern verschwunden; allein die Lache Erbrochenes mit Blutsprenklern (rot! rot!) blieb im Nebenzimmer. Von alleine ging nicht alles weg. Aber manches. Johnny ging zwar, aber ging nicht weg, weil er auf der Stelle marschierte - warum auch immer. Die Frage ließ ihn erschrecken, er richtete seine Gesichtsmuskeln. Hatte der Großmajor die Regung in Johnnys Gesicht gesehen?
“Weiter so, Jonnäh!”, schnitt dessen Stimme durch den grünen Pixelbrei. Scheinbar nicht. Gut. Sehr gut. Ein anderer, ungewöhnlich klarer Zug nahm in seinem Kopf Gestalt an, den Johnny präventiv gegen die Innenwand seines Schädels fahren ließ. Noch nicht, sagte er sich mantrahaft vor, noch nicht. Bald.



Ein anderer Moment, als der Großmajor schließlich verstummt, der Fernseher aus und Johnny verschwitzt auf dem Sofa war. Nun ließ er endlich jenen Zug wieder fahren, arbeitete sich sogar zu dessen Schaffner hoch und pump, pump, pumpte die Kohle in den Ofen, als gäbe es kein Morgen. Der Zug fuhr in den Hafen ein und versank im kristallklaren bla- nein, grünen Wasser.

ER
HATTE
SIE
GESEHEN.

Spektakulär.
Außergewöhnlich.
Das änderte alles. Alles? Ja, alles - auch wenn Johnny nicht genau darauf zeigen konnte, warum es so war.
Warum.
Als sich das Wort so eindeutig in seinem Kopf formierte, zuckte Johnny zusammen, als hätte er einen Stromschlag bekommen. Er sprang vom Sofa auf und schaute sich um, aber da war keiner außer seinem alten Holzschrank mit dem kaputtgebrochenen Bilderrahmen ohne Inhalt darauf. Irgendwann würde Johnny ihn verkaufen. Holz wurde immer wertvoller. Nicht jetzt. Jetzt musste er sie wiedersehen. Nicht vorbeilaufen. Nicht den Mund halten. Ihr in die Augen sehen, aus nächster Nähe. Und er würde sehen, was sich darin verbarg, und er würde sich retten. So eine Energie, so eine Zielstrebigkeit hatte Johnny noch nie gefühlt. Es fühlte sich gut an.


Ein anderer Moment. Johnny war wieder auf freiem Fuß. Er hatte zum ersten Mal seit langer, langer Zeit ein reales Ziel. Die grüne Sonne hatte sich bereits weitestgehend versteckt (vor wem denn?), und während Johnny den Fußgängerweg entlang lief - nicht marschierte, sondern lief -, sprangen über seinem Kopf die Laternen an und verstrahlten ihr grünes, grünes Licht. Gespenstisch. Aber in einem guten Sinne. Vielleicht auch nicht. Was auch immer das heißen sollte.
Da vorne war die Bar. Johnny wusste nicht einmal, ob sie wieder dort sein würde, aber er ging einfach davon aus. Das galt in mancherlei Hinsicht gewiss auch als eine Art von Wissen.
Und dann lief er an der Bar vorbei. Seine verfluchten Beine liefen einfach an der Bar vorbei. Latsch, latsch, und bald fühlte es sich wie ein Marschieren an, verdammt nochmal! Johnny hatte geduscht, und jetzt schwitzte er wieder. Alles lief nicht so, wie es sollte, inklusive Johnnys Beinen. Er zwang sie, links abzubiegen. Er würde also einmal um diesen Häuserblock herumgehen und dann mit Schwung an die Tür der Bar herantreten und hineintreten und vor die Frau treten und so weiter und so weiter und so weiter und so fort.
Ha! Eine Seite geschafft. Und latsch, latsch, KEIN marschieren (willst du nicht marschieren, Jonnäh? Nein?) - Nein, Herr Großmajor, möchte ich nicht, bitte sehr und danke schön!
Noch eine Seite. Bald würde er sie sehen. Und um ihn her keine Menschen, und unter ihm nur der unebene Asphalt, und über ihm das grüne Laternenlicht, das so fr… da war eine Unterbrechung.
Er schaute auf, und da war vor ihm eine Laterne, die flackerte gelbes Licht. Gelbes Licht. Offensichtlich hatte man vergessen, die Glühbirne auszuwechseln oder die Neonröhre oder womit auch immer diese Metalldinger betrieben wurden. Keine große Sache, oder? Ganz und gar keine große Sache. Aber es fühlte sich an wie eine große Sache. Gelbes Licht. Na, herzlichen Glückwunsch. 

Johnny lief weiter und ließ das Flackern hinter sich, das Gelb verfolgte ihn aber bis zur letzten Straßenecke. Gelbes Licht. Sachen gab’s. Noch einmal links, und da war wieder die Bar. Johnny zwang sich mit ernsthafter Körperanstrengung, auf der Stelle stehenzubleiben. Da stand ein Mann vor der Tür und rauchte. Er schaute Johnny scheel von der Seite an, Johnny schaute schnell weg. Er schwitzte mittlerweile etwa so, wie ein Schwein womöglich schwitzte, wenn es denn schwitzen würde. Schwitzten Schweine? Woher sollte man das wissen? Was ist der Grund, wieso man sowas wissen sollte oder könnte oder … NEIN.
Johnny rief laut aus: “NEIN.”, und der Raucher sah ihn noch immer scheel von der Seite an, und Johnny hörte auf und er atmete sehr schnell und dann etwas langsamer und dann fuhr er sich durch das strubbelige Haar und machte zwei Schritte voran und dann atmete er noch einmal dreimal ein und aus und ein und aus und ein und aus und dann, ja dann, sagte er sich, müsste er doch einmal sich zusammenreißen und das tat er dann auch und  - stieß die Tür auf. Er stieß die Tür auf und trat ein. Johnny trat in die Bar ein.


Es lief keine Musik. Das fiel Johnny sofort auf. Lief in Bars und Clubs und Kneipen und ähnlichen Orten nicht Musik? Prompt musste er an die scheußlichen Tänzer denken, die er gesehen hatte und die ohne Musik so getanzt hatten, als hätten sie Musik. Er schüttelte den Kopf. Ein erbärmlicher Erinnerungsfetzen, die Ahnung einer Erinnerung, schwebte an Johnnys innerem Auge vorbei; er zeigte Umrisse und Gelächter und Lärm, so viel Lärm, wummernde Musik im Hintergrund und geschriene Gespräche - das war eine Erinnerung an eine Bar, in der Johnny einmal gewesen sein musste. Davor.
Das hatte mit dem, was er nun sah und hörte, mit der Szene vor ihm, nichts zu tun. Ganz und gar nichts. Es war alles anders, aber das musste ihn nicht überraschen, denn er wusste und kannte das ja, dass alles anders war. Also: Das Mädchen, die Frau, wo war sie?

Er trat an den Tresen heran und tat etwas, das er sehr ungerne tat: Er begann ein Gespräch.
“Entschuldigung.”
Ein von Pockennarben zerkratertes Gesicht schaute ihm von hinter dem Tresen entgegen. “Hm?”, sagte es.
“Ich bin hier, um je-”
“He, wenn du mit mir redest, schau mir wenigstens in die Augen.”, unterbrach ihn der Barkeeper.
Johnny versuchte es. Er versuchte es nochmal. Es gelang ihm nicht. Was auch immer unter den Augenbrauen des Mannes lauerte, er hatte Angst davor. Er wollte es nicht sehen und freilich - er KONNTE es nicht. Stattdessen fixierte er seinen Blick auf eine dunkle Narbe unmittelbar über der rechten Augenbraue des Individuums. Das bezweckte in der Regel den gleichen Effekt. Ein zufriedenes “Hmpfh” kam ihm entgegen.
“Also, ich bin hier, um jemanden zu treffen.”, begann er erneut.
“Lady Promille, hm?”, sagte der Mann und machte sich daran, ein Getränk aus einem großen grünlich schimmernden Hahn abzuzapfen.
“Lady Pr- nein, ich glaube nicht.”, sagte Johnny.
Das Mondgesicht hörte auf. “Hm? Bist du kein Trinker? Bist du etwa ein Tänzer? Was willst du dann hier, Junge?” Das ‘Junge’ hörte sich beinahe wie ein ‘Jungäh’ an und für einen Moment befürchtete Johnny, der Großmajor hätte ihn auf frischer Tat dabei ertappt, wie er ganz und gar nicht marschierte, sondern etwas tat, das nicht im geringsten etwas mit dem großen Geschäft des Marschierens zu tun hatte und…
“Was nun?”, riss ihn die Stimme des Barkeepers aus dem entgleisenden Zug und dem Fritzel-Fratzel seines Kopfes. Johnny blinzelte.
Erst jetzt fielen ihm die genannten ‘Trinker’ auf.
Überall saßen sie, einsame Gestalten, weit über die Tische und den Tresen gebeugt, alle für sich alleine und mit einem Glas oder einer Flasche vor sich stehen. Es schien so, als würden sie das stattfindende Gespräch, geschweige denn Johnnys Präsenz, überhaupt nicht wahrnehmen. Eine große Traurigkeit lastete an jeder Faser dieser Gestalten und es stank, wenn Johnny sich darauf konzentrierte, nach Resignation. Es stand nach Resignation. Sie waren einfach nur da, existierten und wurden der Kategorisierung gerecht. Trinker.
“Rah, ähm, ich bin kein Trinker. Ich bin auch kein Tänzer.”
Der Barkeeper zog eine Augenbraue hoch. “Was denn dann? Bist offensichtlich kein Lieger, dann würdest du ja nicht hier stehen und reden, hm? Und wie ein Schreiber siehst du mir auch nicht aus. Die sind selten! Was bist’n dann?”
Johnny blinzelte noch einmal. Ein Lieger? Einer, der einfach lag? War das etwa das, was mit seinem Herrn Nachbar los war? Er war ein Lieger? “Ähm, ich habe keine Ahnung.”
“Heda, irgendwas musst du aber sein.”
“Was sind Sie denn?”
“Ich bin Barkeeper.”
Das leuchtete Johnny ein.
“Also, ich suche jetzt nach der Dame.”
“Was du nicht lassen kannst.”
Gespräch beendet. Sehr souverän. Sehr toll gemacht, Johnny. Danke.

Er schaute sich um. Diese Bar war größer als von außen zu erwarten. Natürlich konnte man das von vielem sagen, auch Menschen hatten erstaunlich viel in sich, stellte man fest, wenn man einen einmal von Kopf bis Fuß aufschneiden wollte und… wo war sie? Johnny ging langsam um den Tresen herum, von wo aus das Kratergesicht jeden seiner Schritte mitverfolgt, und schwitzte. Ja, Johnny schwitzte, und je länger er sie nicht fand, desto lauter wurde das statische Rauschen, dieses muntere und schmerzhafte Fritzel-Fratzel in seinem Kopf, Kopf, Kopf, und seine Gedanken wurden schwer und träge unter dieser Nebeldecke und… wo war sie? Wo war sie? Das war der Gedanke, der zählte. Da war er, recht klar zu erkennen, der Gedanke, ein Leuchtfeuer im Dunst. Johnny musste sie finden. Aber er fand sie nicht. An der schäbigen Wand entlang reihten sich Rücken an Rücken Sitznischen von knallgrün gepolsterten Bänken mit Tischen zwischen ihnen, und überall saßen einzelne Gestalten, Trinker. Sie war nicht unter ihnen.
Es war alles sinnlos.
Warum– ja, WARUM war er davon ausgegangen, dass sie wieder, oder IMMER hier sein würde? Johnny wollte gehen und nach Hause gehen und sich hinlegen und nie wieder aufstehen. Da sah er sie.
Im hintersten Teil der Bar machte der Raum einen asymmetrischen Knick, in den zwei weitere Sitznischen hinein gequetscht worden waren. Eine davon hatte keinen neuen, knallgrünen Bezug, sondern einen alten, schäbigen, befleckten roten Bezug. Und da saß sie. Sie saß da. Unmissverständlich. Sie war es. Bleiche Haut. Kurzes braunes Haar. Johnnys Herz setzte aus. Dann setzte er sich ihr gegenüber.
Sie nahm die Bewegung vor sich war, schaute unweigerlich auf und - schaute ihn an.
Ihre Augen trafen sich, ihre Blicke trafen sich. Aus nächster Nähe.
Johnny versank. Die junge Frau erschrak. Johnny erschrak. Beide schauten weg, fixierten sich auf einen unbestimmten Punkt auf der schäbigen Tischplatte, die sie voneinander trennte. Das war nur ein unfassbar kurzer Moment gewesen, den sie sich unmittelbar in die Augen geschaut waren, aber das allein hatte schon eine enorme Wirkung auf Johnny. Er wusste nun ohne letzten Zweifel, dass er hier richtig war.
Momente verstrichen. Momente verflossen. Sie schwiegen sich an, peinlich berührt, aber keiner wollte gehen, sonst wären sie ja gegangen, es hielt sie ja niemand davon ab.
“Johnny.”, sagte Johnny irgendwann und erschrak über den Klang seiner eigenen Stimme.
Mehr Momente vergingen.
Sie räusperte sich. “June”, sagte sie. Das ergab Sinn. Dass sie June hieß, ergab für Johnny so viel Sinn wie der Schaden einer einschlagenden Kanonenkugel in einem Holzschiff. Viel Sinn. Und das machte Johnny zum glücklichsten Menschen auf dieser Welt, oder zumindest in dieser Stadt, oder zumindest in dieser Bar. Er wusste es nicht, er kannte viel zu wenig Menschen, und auch diese Menschen kannte er nicht wirklich, wusste er doch nicht, was in ihnen vorging. Aber Johnny fühlte sich gut, und das hieß, er fühlte überhaupt irgendetwas. Und das war gut.
Momente vergingen. Es waren aufregende Momente. Johnny und June schwiegen sich an, aber zwischen ihnen gab es ein stilles Einvernehmen über ETWAS. Den Blickkontakt wagte keiner von beiden erneut. Als Johnny schließlich aufstand, hörte er June sagen: “Bis bald.”
“Ja.”, sagte er. “Ja.”


Als Johnny das nächste Mal die Bar betrat, hatte er ein neues Selbstverständnis im Gepäck. Er wollte gern in der Präsenz von June schwimmen, wenn so etwas irgendwie möglich sein sollte. Er ignorierte den Barkeeper, ging um den Tresen herum und fand June wieder am selben Platz, in der einzigen roten Sitzecke. Rot. Das Polster war rot. Dieses Mal grüßten sie sich. Außerdem hatte June ein Bier vor sich stehen. Etwas war anders - Johnny fühlte sich nicht gehemmt wie im anderen Moment, etwas zu sagen. In ihm war etwas gebrochen, etwas, von dem es gut war, kaputt zu sein.
“Trinkst du das?”, fragte Johnny und deutete auf das Bier vor June.
“Ich denke schon.”, antwortete June. Sie starrte die Flasche an. “Ich möchte es probieren.”
“Okay.” Und weil sie sich nicht rührte, fragte Johnny: “Willst du Trinkerin werden?”
June sah auf, ohne aber in seine Augen zu schauen. “Ich weiß nicht. Vielleicht. Irgendetwas muss ich ja werden.”
Das leuchtete Johnny ein. Irgendetwas musste sie ja werden. Jeder musste irgendwas werden. Zumindest, wenn man sein wollte. Johnny wollte sein, stellte er fest, und das hieß: Johnny musste auch irgendetwas werden.
Jetzt nahm June zögerlich die Flasche in die Hand, hob sie an ihren Mund und trank einen kleinen Schluck. Johnny merkte, wie er den Atem anhielt. June setzte die Flasche ab.
“Schmeckt nicht.”, sagte sie schließlich.
Johnny war erleichtert. Er wollte nicht, dass June Trinkerin wurde.
“Willst du probieren?”, fragte sie ihn.
“Nein.”
“Okay.”Sie schwiegen sich wieder an. Es war eine gute Stille. Eine externe Stille zwar, keine innere Stille, aber Stille war Stille, immerhin etwas. Ja, eine gute Stille. Sie fühlte sich gut an.
Johnny fummelte an einer Feder herum, die neben ihm aus dem alten roten Sitzbezug hervorragte. June bemerkte das.
“Herm sagt, der Stoff hat nicht gereicht.”
“Was?”, schreckte Johnny hoch.
“Herm. Der Barkeeper. Er sagt, der neue Stoff hat nicht gereicht für alle Sitze.”
“Ah. Ich mag Grün sowieso nicht besonders.”, erwiderte er.
“Ich auch nicht.”, sagte June. Johnny sah ein wenig auf und bemerkte, dass sie leicht lächelte. Er lächelte zurück.
Danach schwiegen sie sich wieder an, wichen den Augen des anderen aus und fühlten sich wohl beieinander. Johnny fühlte sich wohl. Er wusste: Er hatte endlich jemanden gefunden, der ihn verstehen konnte, und jemanden, den er selber auch verstehen konnte. Verständnis. Gut. Sehr, sehr gut. Schritt für Schritt, aber es war ein Weg. Es war der einzige Weg.


Es regnete. Wie grünlich-kränkliches Dauerfeuer aus einer Alien-Artillerie schlugen die Regentropfen unermüdlich in den unebenen Asphalt ein und hinterließen Pfützen, die nach Säure aussahen. Es war keine Säure, das konnte man riechen. Es war Wasser, nur eben grün.
Johnny stand am geöffneten Fenster und beschaute geistesabwesend das Schauspiel. Es war wirklich wie ein Schauspiel, entschloss er, auch wenn er nicht wusste, wann er jemals in einem Theater gewesen wäre. Die Tropfen waren die Tänzer, und er war die Bühne, und der Boden war das Publikum? Nein, das konnte nicht stimmen. Aber so ähnlich. Schauspieler. Johnny nickte sich selbst zur Bestätigung zu. Schauspiel.
In der Ferne ging eine Sirene los. Es dauerte einige lange Momente, bis sie jemand abschaltete.
Bei Schauspielen starben Menschen, das war eine Sache, die Johnny wusste.
Zum Beispiel Abraham Lincoln, als John Wilkes Booth ihn im Theater erschoss - das war am Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs gewesen. Und es lief eine Komödie währenddessen. Nicht lustig.

Woher kam plötzlich dieser Gedanke? Regen. Schauspiel. Das war es gewesen. Manchmal erinnerte Johnny sich einfach an seltsame zerfetzte Schnipsel aus anderen Momenten, in denen er… und die Welt, anders waren. Davor. Hatte er einmal viel über Geschichte gewusst? Über Menschen wie diesen Lincoln, dessen Gesicht ihm so kurz ganz deutlich vor Augen gestanden hatte und nun bereits wieder zu einer groben Masse zerschmolzen war? Ein Schemen. Und warum hatte er all dies vergessen? War das große Vergessen in einem einzelnen Moment geschehen oder über viele Momente hinweg, langsam schleppend wie eine Krankheit… ja,  wie eine Krankheit. Eine Krankheit.
Er beschaute den Artilleriebeschuss weiter, der einige Etagen unter ihm ein Armageddon auf dem Asphalt veranstaltete.
Ein Tropfen müsste man sein…
Ein klares Ziel…
Und danach, völlige Auflösung.
John Wilkes Booth hat Abraham Lincoln erschossen. Oder war es andersherum? Plötzlich wusste Johnny schon nicht mehr, was daran möglicherweise irgendeine Relevanz tragen könnte. Alles Schnee von gestern, schwarz-weiße Szenen und überhaupt nichts Grünes an der Sache.
Ein Satz. Du bist nicht Herr über dein eigenes Fleisch, hm? Ja, stimmt. Johnny schloss das Fenster. Es war Zeit, zu marschieren.
Er zögerte.
Dann, ganz behutsam, drehte er sich wieder um zum Fenster, umschloss den kalten Griff fest in seiner Hand, drehte ihn und zog das Fenster wieder auf. Er lehnte sich auf den Sims, streckte einen Arm nach draußen und spürte das Prasseln der Tropfen auf der Haut. Das fühlte sich gut an. Natürlich. Er formte schließlich seine Hand zu einer Schüssel und fing darin einige der Tropfen auf. Er hielt sie sich genau vor die Augen. Interessant.
Es erschien ihm, die Tropfen wären nicht grün. Zumindest nicht sehr. Eigentlich hatten sie gar keine Farbe. Die Tropfen waren farblos, jetzt sah er es ganz deutlich. Nicht grün. Farblos.
Johnny seufzte. Und starrte weiter hinaus und hinab. Er wollte nicht marschieren gehen und dem hässlichen dämonischen Großmajor ins Gesicht sehen und seine Stimme mit dem seltsamen Akzent hören. War das schon immer eine Option gewesen?
Das war egal. Was zählte, war das jetzt. Und jetzt wollte er nicht marschieren. Also marschierte er nicht.
Stattdessen seufzte er und dachte an June. Sie war der Schlüssel zu seinem Kopf. Sie musste es sein.


Ein wichtiger Moment. Man könnte sagen, der Moment. Johnny betrat die Bar. Ja, er betrat die Bar. Es war das dritte Mal, dass er sich zu June setzen würde. Die große Anzahl vergangener Momente hatte er nur an sie gedacht. Am Fließband. Im Park. Beim Marschieren. Also immer. Er war bereit. Er wollte ihr in die Augen sehen. Er wollte, er musste wissen, was darin zu sehen war. 

Als er sich hinsetzte, schob sie ihm jedoch sofort, noch ehe er etwas sagen konnte, ein Stück Papier zu. Johnny schaute es fragend an, dann hob er es auf. Auf der Rückseite waren fünf Zeilen mit einem etwas verwischtem grünen Stift geschrieben. Er las stumm:

Ein Stein fällt.
Warum?
Frag ihn doch,
Und antwortet er dir nicht
Weißt du, warum.

Johnny starrte noch eine Weile auf dieses kleine beschriebene Stück Papier in seinen Händen. Dann schaute er auf, den Blick wie gewohnt auf Junes Augenbrauen gerichtet. “Das hast du geschrieben?”
“Das habe ich geschrieben.”
“Warum?”
“Ich bin kein Stein.”
“Oh.”Er schob das Stück Papier behutsam zurück, sie steckte es sich ein. Sie schwiegen sich an.
“Brauchst du Feedback?”. fragte Johnny.
“Nein, ich wollte es dir nur zeigen.”, sagte June.
Einvernehmliches Schweigen.
Etwas brannte Johnny auf der Zunge und im Hirn. Etwas Ungeheuerliches, das er niemals jemanden fragen wollte. Jetzt tat er es trotzdem. “Sag mal, June...”
“Ja?”
“Kennst du ihn auch? Siehst du ihn auch?”
“Wen?” Ihr Gesicht war ein einziges großes Fragezeichen.
“Den grünen, den bösen, den - den Großmajor?”
Sie dachte nach. Johnny wurde schwindelig. Dann fragte sie: “Was ist ein Großmajor?”
“Egal. Egal! Vergiss es!”, beeilte sich Johnny zu sagen und bereute es zutiefst, diese dumme, dumme Frage überhaupt gestellt zu haben. Hatte er damit alles ruiniert? Er hoffte nicht, er wollte nicht. Er brauchte die Erkenntnis, er brauchte den Blick in diese schwarzen Löcher, die man Augen nannte, er musste-
“Das taugt nichts, oder?”, fragte June plötzlich. “Ich meine das Gedicht.”
Es war, als hätte sie Johnnys letzte Frage vergessen. Es war alles gut. Es war nichts verloren.
“Ich wusste nicht, dass das ein Gedicht war. Ich dachte, es ist ein-”, aber Johnny fiel das Wort nicht ein.
“Also keine Schreiberin. Okay.”
Johnny wusste nicht, was er sagen sollte. Er bekam nun den Eindruck, June würde eine Liste abarbeiten, aber er verstand nicht recht, wofür.
“Hast du von Tänzern gehört? Kennst du Tänzer?”, fragte sie ihn nun.
“Tänzer? Ja.”, sagte Johnny. Dieses Treffen verlief nicht so, wie er es brauchte. “Vor einigen Momenten, ganz in der Nähe, haben sie auf der Straße getanzt.”
“Führst du mich hin?”
“Ja.”


Und Johnny führte sie hin. Da waren sie tatsächlich, die Tänzer, genau dort, wo Johnny sie zuletzt gesehen hatte. Da war der ältere Anzugträger wieder, der völlig in der Gruppe aufgegangen war, und auch die rote Wölfin zog wieder ihre tänzerischen Kreise um die anderen. Es war alles, als wäre er nie fort gewesen. June beobachtete die Tänzer eine Weile, und Johnny bekam es mit der Angst zu tun, sie würde jeden Augenblick ein paar Schritte voran gehen und sich ebenso in der Gruppe verlieren, im Tanz verlieren, und er würde die Chance nie wieder haben, ihr noch einmal in die Augen zu sehen, die das erste gewesen waren, was er in seinem neuen Leben, nach jenem Moment gesehen hatte, diese Augen, die so panisch gewesen waren, und die ihm selbst über die Straßenkreuzung hinweg so klar erschienen waren, diese Flucht-Augen, in denen er sich selbst vermutet hatte, und nun würde er nie in sie hineinblicken können und einmal seinen Mund aufmachen, richtig aufmachen und sagen, was er grundsätzlich dachte und spürte und -
“Lass uns gehen.”
“Okay.”
Und sie gingen. Sie war keine Tänzerin. Es war alles gut.
Aber Johnny und June gingen nicht zurück in diese schummrige Bar. Sie gingen nebeneinander die Straße entlang, machten ein paar Biegungen, es war ganz egal, wohin sie gingen, Johnny tat es nur gut, sich einfach zu bewegen, und zwar nicht auf der Stelle, und das war mit jemand anderem so viel einfacher.
Schließlich kamen sie an einen Park, der Johnny bekannt vorkam. Er war ihm bekannt, denn er war bereits in ihm gewesen.
Sie setzten sich schließlich auf eine Parkbank unweit von der Stelle, an der Johnny mehrmals auf die rote Sonne gehofft hatte, unweit von dem Ort, an dem die alte Frau ihn nach Turm 32 oder 33 oder was auch immer gefragt hatte. Die Parkbank war grün, färbte aber nicht ab, das hatte Johnny zuvor mit ausgestrecktem Zeigefinger getestet. Nun saßen sie da stumm nebeneinander. 

In der Stille war da nun etwas anderes: Druck. Unmittelbar baute sich Druck auf. Das war der Druck. Johnny wusste es. Das war der Moment. Der Druck war in ihm, aber er spürte, ja, spürte diesen Druck auch in June, die neben ihm saß, die sich sichtlich unwohl fühlte. Mehr Druck. In Johnnys Kopf kein Fritzel-Fratzel, aber das ansteigende Summen von einem Rohr unter, nun, unter Druck. Er stieg weiter an. June schlug nervös die Beine um. Sie spürte es auch. Johnny wusste es. Der Druck stieg höher, höher, höher, bis zu einem unerträglichen Grad, und dann stieg er noch einmal etwas mehr, und dann machte es Peng.
Beim letzten Treffen war bereits etwas in Johnny gebrochen, aber nun platzte auch noch etwas, und zwar aus ihm heraus. Sein Kopf, nein, der Inhalt seines Kopfes, soll heißen: Wörter. Gedanken. Das, was er sich dachte. Und das ganze in die Richtung einer anderen Person. Da war keine Hemmung mehr. Er sah, dass es June genauso ging.

“Deine Augen sind mir wichtig, June.”, war das erste, das Johnny sagte. “Deine Augen sind ein Spiegel, und ich muss mich darin sehen. Es führt kein Weg daran vorbei. Ich muss hineinsehen und darin versinken, oder ich muss untergehen.”
June antwortete: “Ich habe dich damals gesehen, und du hast mich gesehen, das weiß ich. Ich weiß nicht, ob es Zufall war, oder ob jeder jemandem in die Augen geschaut hat in diesem fürchterlichen Augenblick, es spricht ja niemand so wirklich mit niemandem mehr, seit das alles passiert ist, und wir wissen nicht einmal so genau, was passiert ist oder warum.”
“Ich frage mich immer wieder eines: Wenn einer auf den Putz haut, was soll denn dann passieren? Was soll der Putz denn dann machen? Der gibt auf, der gibt nach, der ist dann weg. Da kann man nicht nochmal draufhauen. Und so ist das auch mit mir: Die Decke fällt mir über dem Kopf zusammen. Hörst du, die Decke fällt mir über dem Kopf zusammen! Da sind Risse und ich höre es schon knirschen, und irgendwann liege ich da begraben und das war es dann. Die Decke von allen Dingen! Einfach weg! Wie kann das denn sein? Wie soll denn da überhaupt irgendjemand weitermachen können? Verstehst du, was ich meine?”
June nickte. “Weil alles sinnlos ist, richtig? Weil plötzlich alles sinnlos ist. Wenn ich Menschen sehe, habe ich das Gefühl, die haben das nicht realisiert, die wissen gar nicht, in welcher Lage wir uns befinden, und die machen einfach weiter, als sei nichts, aber das kann doch nicht richtig sein, oder? Johnny, das kann doch nicht richtig sein!”
Johnny nickte. “Sie bauen sich Häuser mit 100 Etagen und nennen sie Türme, aber die gehen gar nicht nach oben, sondern in die Erde hinein! Wer macht denn sowas? Aber June, ich muss es tun, ich muss dir in die Augen schauen, es gibt sonst nichts mehr für mich, keinen Grund zu marschieren, aber wenn ich an deine Augen denke und sie mir vorzustellen versuche, gibt das für mich erst recht einen Grund, eben nicht zu marschieren sondern… sondern irgendetwas anderes zu tun. Irgendetwas!”
“Lass mich nicht erröten. Lass mich nicht erröten, hörst du!?”, kreischte sie beinahe, fing sich aber sofort wieder. “Bitte lass mich einfach nicht erröten, Johnny.”
“Ja, nicht dich, nur die Sonne. Die Sonne ist grün. Weißt du das? Ist dir das schonmal aufgefallen? Dass die Sonne grün ist?”
Beide schauten nach oben, um zu bestätigen, was sie sowieso wussten. June sagte: “Jeden Morgen. Jeden Tag. Ich weiß es. Ich habe es gesehen. Es ist unerträglich, dieser Moment - dieser Moment, in dem die Sehnen reißen und die Augen sich weiten, die Pupillen gehen auf, aber alles in dir und an dir geht unter. Das ist unerträglich. Ich halte das nicht aus.”
“Mir ist es erst vor wenigen Momenten so wirklich bewusst geworden, weißt du, dass die Sonne wirklich grün ist.”, sagte Johnny. “Das sollte doch nicht so sein, oder? Das war doch nicht immer so! Wer hat das geändert und warum? Überhaupt: Warum muss alles grün sein? Wer hat das entschieden? Dass alles besser ist, wenn es grün ist?”
“Ich weiß es nicht.”, sagte June. “Ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß nicht, ob das irgendjemand weiß. Es ist eine Modeerscheinung? Ein Trend? Es ist so, als wollte man die Illusion von - von Leben erschaffen und so tun, als stürben die Bäume nicht gerade aus. Aber die Sonne folgt doch nicht den Trends von irgendwelchen - irgendwelchen Affen!” Das letzte Wort spuckte sie beinahe aus. “Es ist alles sinnlos, aber ich verstehe nicht warum.”
Johnny hatte genickt und genickt, und June sprach ihm derartig aus der Seele, dass ihm gar nichts anderes übrig blieb als weiter zu nicken. Dieses Gespräch war beinahe wie ein Wettbewerb, wer von den beiden etwas sagen konnte, das wahrer war als die vorherige Aussage, und sie steigerten sich hinein und sagten wahrere und wahrere Worte.
Als sie fertig war, holte er tief Luft. “Ich möchte ihn nicht mehr gehen, diesen Weg des geringsten Widerstandes.”, sagte er. “Wenn ich meine Augen schließe, dann möchte ich nicht länger diese schwelenden, ausgebombten Trümmer meines Verstandes sehen, sondern Wolken! Sonnenstrahlen, die sanft durch die Wolken hindurchbrechen und sich auf der ruhigen Oberfläche eines Sees spiegeln. Ich möchte Leben sehen! Leben!“
“Aber früher oder später muss ich blinzeln”, fuhr er fort, “, und dann rattert es und knattert es und das eiserne Fallgatter stürzt wieder herab. Dann kann ich nichts mehr sehen außer diese schwelenden Ruinen meines Verstandes, und ich kann nichts mehr hören und spüren und denken. Ich vergesse Dinge, June, Dinge über mich und über das Davor. Ich habe das Gefühl, ich löse mich von innen heraus langsam auf, und ich kann nichts dagegen tun. Ich will das nicht mehr, ich kann das nicht mehr. Ich hasse alles an der Welt, in der wir jetzt leben oder existieren müssen, an dieser - dieser - dieser Uranwelt! Aber schon jetzt spüre ich dieses statische Fratzeln sich anschleichen. Nicht lange mehr kann ich den Gedanken halten.”
Eine Weile sagte niemand etwas. Und plötzlich wurde Johnny bewusst, dass sie sich bereits in die Augen schauten. Sie saßen direkt nebeneinander, keine Straßenkreuzung und kein Tisch zwischen ihnen, und sie schauten sich direkt in die Augen, und keiner zuckte mehr zusammen oder schaute verlegen weg. Sie schauten sich direkt in die Augen. Wie lange schon? Und Johnny schaute nun bewusst, ob da eine tiefe Wahrheit ihm aus Junes Augen entgegenglitzerte - sie waren hellblau, ihre Augen, hellblau mit grauen Sprenkeln. Er starrte ihr in die Augen. Sie starrte ihm in die Augen. Momente verstrichen, die sich nicht zu zählen lohnten, weil es unglaublich viele waren.
“Sag mir eines: Fürchtest du dich?”, fragte Johnny irgendwann, als er glaubte, sich sattgesehen zu haben.
“Ja.”, hauchte sie.
“Wovor?”
“Vor dem Aufwachen.”


Nachdem das statische Fratzeln in den Momenten mit June, während dieses lebensspendenden Gesprächs komplett versiegt war, kehrte es noch auf dem Heimweg stärker denn je zurück und traf Johnny mit der Härte eines Dampfschiffs. Aber Johnny kämpfte dagegen an. Er kämpfte an, und er hatte das ungewohnte Gefühl, dass es etwas bewirkte.
Durch das statische Fratzeln, durch das Dauerfunken hinweg bahnte sich das schönste, tödlichste Konstrukt aus dem Gewebe der Zeit: Stille. Absolute, weiße, kontrastlose Stille. Wie Watte umfing sie Johnnys Kopf, Johnnys Körper, und mit einem Schlag war alles still und leise - es war still. Totenstill. Und im Zentrum der Stille, inmitten ihres Herzens, war wohlig-warm ein Gedanke eingebettet, so kristallklar wie die Quellen am Anfang des Universums:

Es wird gut werden. Da ist eine Zukunft.

Johnny wurde unsäglich heiß; eine Art Fieber brach über ihn wie eine große, säurelastige Welle sich mit aller Kraft gegen den flachen Strand wirft und sich darin verliert. Es fühlte sich gut an - denn es war gut, hieß doch die Hitze, dass im Körper der Unrat und die Krankheit mit aller Kraft bekämpft wurden. Johnny wusste, davon hatte er reichlich, oh ja, reichlich Krankheit und Unrat trug er auf seine eigene Weise in sich, und so begrüßte er dieses Gefühl, fasste sich fasziniert mit beiden Händen an die aufglühenden Wangen und konnte ein subtiles, ein wissendes Lächeln nicht verkneifen.


Das Magazin stand wieder auf seinem Holzblock vor dem Reitermonument. Es gab kein Publikum. Außer Johnny. Johnny ging geradewegs auf das Magazin zu. Es stand dort reglos, als sei es abgeschaltet worden. Erst als zwischen ihnen nur noch wenige Schritte waren, nahm es Johnny wahr  und schreckte hoch. Sein Gesicht zeigte klar die Spuren vom letzten Treffen der beiden.
“NEIN! Bitte nicht!”, schrie es auf, was nicht auffiel, weil es des Berufs wegen sowieso immer sehr laut sprechen musste. Es kauerte sich hin. Johnny kam ganz dicht zu ihm, sodass sein Schatten über ihm hing.
Es konnte nichts für irgendwas. Es konnte nichts dafür und dagegen, es war einfach da, und allein durch diese Eigenschaft war das Magazin Johnny bereits erstaunlich ähnlich. Dazu brauchte es gar nicht viel.
Johnny zog den Mann hoch und - umarmte ihn. Johnny umarmte das Magazin. Es war keine lange Umarmung, keine besonders innige, aber es war eine Umarmung. Eine Umarmung war Sprengstoff. Er ließ das verblüffte Magazin los und ging nach Hause.


Er ging am schwarzen Fernseher vorbei. Er würdigte ihn keines Blicks. Er war nun keines Blicks mehr würdig. Nie mehr.


Am nächsten Tag……
Am nächsten Tag………
Am nächsten TAG war Johnny auf dem Weg zur Bar, um June dort wieder zu treffen. Es war eine neue Zeit angebrochen, in die er sich hineinwerfen wollte. Er wollte sich mit ihr treffen und mit ihr sprechen, oder einfach nur schweigend in ihre Augen blicken. Hauptsache, da war sie. Hauptsache, da war jemand, der bereit war, mit ihm da zu sein. Und hauptsache, da war jemand, den er verstand und der ihn verstand. Er freute sich darauf, ja! Er freute sich darauf, mit ihr darüber zu sprechen, was denn nun passieren sollte, wie sie möglicherweise eine vernünftige Zukunft bauen konnten für die Menschheit und…
Johnny blieb kurz vor seinem Ziel stehen. Links bog eine Straße ab, die er vor dem ersten Treffen der beiden entlang gegangen war, als er nervös einmal um den Block gegangen war, ehe er die Bar betreten hatte. Da war eine Laterne gewesen, die flackerte gelbes Licht.
Er schaute die Straße entlang. Da war die Laterne noch immer, aber jemand hatte ihr Licht gewechselt, repariert, erneuert. Die Laterne verstrahlte nun so wie ihre Brüder und Schwestern dasselbe kränkliche, alles durchdringende Licht. Grünes Licht.
Ein schlechtes Gefühl beschlich Johnny. Er wusste nicht warum, aber er hatte es plötzlich eilig und rannte das letzte Stück bis zu bekannten Bar, stürzte durch die Tür und vorbei am Kratergesicht bis in die hinterste Ecke und -
Da.
Das eine übrig gebliebene rote Polster war ersetzt worden. Mit demselben grünen Stoff. Und die Sitznische war leer. June war nicht da.
“Hast du June gesehen?”, fragte Johnny sofort den Barkeeper.
“Hm? Wen?”, erwiderte er. “Überhaupt, du schaust mir schon wieder nicht in die Augen!”
Das war eine Sache der Gewohnheit. Johnny riss sich zusammen und schaute dem Mann direkt in die Augen. Das waren schwarze Augen, tote Augen, ekelige Augen, und gerade darum harmlose Augen.
“June. Die Dame, mit der ich mich dreimal hier getroffen habe. Gesehen?”, fragte er noch einmal.
“Nein. Nicht, seit ihr zusammen weggegangen seid.”
Johnny ging ohne ein weiteres Wort. Er musste sie finden.


Aber er fand sie nicht. Wie denn auch? Er wusste nicht, wo sie wohnte, er wusste auch nicht, wo sie arbeitete, er wusste gar nichts über sie, obwohl er doch so viel von ihr erfahren hatte und sie so gut verstand und nachvollziehen konnte. Aber das alles nützte ihm nun nichts. Er konnte sie nicht finden, wenn sie sich nicht durch einen unendlich großen Zufall über den Weg laufen sollten. Ihm wurde schwindelig. Er setzte sich einen Augenblick auf die Bordsteinkante, aber sprang gleich wieder auf. Nein. Johnny, sagte er sich, du musst sie finden. Also ging er los, völlig wahllos, in der Hoffnung, sie irgendwo zu sehen.
Mehrmals hielt er inne und fragte sich, ob er nicht überreagierte. Konnte er nicht einfach einen anderen Moment zur Bar gehen, morgen, und dann würde sie gewiss wieder dort sitzen? Aber nein, das klang irgendwie falsch, er hatte ein scheußliches Bauchgefühl, und deshalb ging er weiter. Er ging und ging, stets darauf konzentriert, nicht zu marschieren, sondern zu gehen. Das war ein Balanceakt. Marschieren lag ihm schließlich im Blut, das konnte er nicht leugnen. Nein, das konnte er nicht leugnen. Aber trotzdem ging er und marschierte nicht, und so kam er in einen Teil der Stadt, der ihm völlig unbekannt vorkam, obwohl er hier sein ganzes Leben verbracht hatte. Und obwohl hier sowieso alles gleich aussah. Auch hier waren die Dächer smaragdgrün. Egal, wohin Johnny ging, das Grün folgte ihm. Es war eine Seuche.
Er kam an einem Kleidungsgeschäft vorbei, in dem reihenweise T-Shirts zu kaufen waren, und sie alle waren grün, natürlich grün, in allen erdenklichen Varianten. Das ekelte Johnny an, und es dauerte einen Moment, bis er realisierte, dass er selber ein solches Shirt trug. Hatte er das schon die ganze Zeit an? Unmöglich! Oder? Na, stimmt, die Stiefel an seinen Füßen waren auch grün, stimmt, das kam ihm bekannt vor.
Er ging weiter. Er hielt Ausschau nach June, darum ging es doch, nur um June allein. Er spähte in Gassen, in denen nichts war, und er spähte durch Fenster, durch die man gar nichts sehen konnte, weil sie aus dem allgegenwärtigen dicken Uranglas gemacht waren.
Ihm lief eine Katze über die Füße, die jemand mit Farbe besprüht hatte. Wer tat so etwas?
Er ging, aber er ging mit immer weniger Bestimmung.

An einer Straßenecke war es laut. Sehr laut. Das war nicht die Art Lärm, wie Johnny sie kannte, wie sie in seinem Kopf tönte. Das war extern. Externer Lärm. Überhaupt: Was war das? Musik? Jemand spielte - Klavier??? Ein Geklimper, klar, aber es war Musik nichtsdestotrotz. Wo kam das her? Ah, da war ein offenes Fenster über ihm. Er wechselte die Straßenseite, um besser sehen zu können. Da waren auch Stimmen, und jedes mal, wenn sie etwas sagten, wurde das Klavier im Hintergrund leiser.
“He Fechter, was machst’n da?”, das war eine tiefe Männerstimme.
“Ich schrubbe! Ich schrubbe!”, antwortete ein anderer Mann mit Quietschestimme.
“Na, was schrubbst’n?”, fragte der Erste wieder.
“Na, mein Gewissen!”, antwortete Fechter und lachte einmal laut auf. Das Klavier wurde wieder lauter und es gesellten sich einzelne Krach- und Bumm-Geräusche dazu.
Johnny sah am Fensterrahmen verschiedenfarbiges Licht aufblitzen, das aus der Wohnung kam, und da dämmerte ihm, dass die beiden Stimmen und auch das Klavier und die anderen Geräusche alle aus einem Fernseher kommen mussten. Da lief bei irgendwem irgendwas im Fernseher, was Johnny nicht kannte. Bei Johnny war immer nur der Großmajor zu sehen. Was sahen denn andere Menschen?
"He, sagt mal, wenn der August streitsüchtig wird, mit wem schlägt er sich dann?”, das war die tiefe Stimme wieder.
Eine dritte Stimme antwortete, die Johnny noch nicht kannte. “Weiß ich nicht, sag mal!”
“Na, den September!”, antwortete die tiefe Stimme. Dreistimmiges Gelächter brach aus und floss aus dem Fenster hinaus auf die Straße bis hin zu Johnnys Ohren. Johnny lachte nicht. Johnny war nach schreien zumute. Doch da! Da regte sich was! Ein dicker Mann trat an das Fenster, stark lachend. Als er Johnny sah, der da unten stand und zu ihm hinaufstarrte, hörte er abrupt zu lachen auf - da wurde klar, dass dieser Mann die dritte Stimme gewesen war, die mit den beiden im Fernseher gesprochen hatte, und er schloss das Fenster mit seinem dicken Uranglas und das Lachen und das Piano wurden eingesperrt und waren auf der Straße nicht mehr zu hören.
Johnny blinzelte. Zweimal. Dreimal. Viermal. Und dann, ganz langsam, ungläubig über die letzten Eindrücke, die er gesammelt hatte, setzte er sich in Bewegung. Hier war keine June. Er ging nach Hause.

Er kletterte die Treppen hinauf, hinauf, hinauf, bis zu seiner Etage. Im Flur lag, wie immer, wie bekannt, der werte Herr Nachbar. Johnny stieg über ihn, plötzlich unendlich müde, und suchte nach dem Türschlüssel zu seiner Wohnung. Er drehte ihn im Schloss, öffnete die grün angestrichene Tür und drehte sich noch einmal um zum Nachbarn. Johnny beobachtete ihn einen Moment, wie er da unerschütterlich lag und sich nicht rührte, wie sich lediglich kaum merkbar sein Brustkorb hob und senkte. Er schaute den Nachbarn an, der da schon seit einigen vielen Momenten lag.
June war keine Trinkerin.
June war keine Schreiberin.
June war keine Tänzerin.
In diesem Moment befiel Johnny eine schreckliche Ahnung und ihm wurde klar, dass er June nie wieder sehen würde.


Johnny saß auf seinem grünen Sofa und starrte den schwarzen Fernseher an. June war nicht da, sie würde nie irgendwo sonst mehr sein. Johnny war allein - heda, nicht allein, denn da war ja auch Johnny bei ihm, Johnny spürte seine Gegenwart stärker als zuvor, wie eine unendlich lange Umarmung, die unmissverständlich zeigte, dass er eben da war, dass er Raum ausfüllte und existierte. Mehr konnte Johnny von Johnny den Umständen entsprechend nicht erwarten.
Aber der Großmajor war auch da, wenngleich auf die Weise, wie ein unschöner Gedanke im Kopf hängen bleibt oder ein blauer - ja, blauer! - Fleck sich am Oberschenkel festbeißen kann. Das war eine andere Art von Da-sein, und es war fraglich, ob sie überhaupt zählte. Aber wer war schon befugt zu sagen, was zählte von all den Sachen und Dingen? Das Magazin? Nein, das erzählte nur weiter und improvisierte dabei auch noch, da war sich Johnny nach allem immer noch sicher. Die Bosse des Magazins? Nein, die beobachteten nur und interpretierten das, was sie so beobachteten, zwangsläufig ein wenig, aber wirklich wissen, was Sache war, das taten sie keinen Deut mehr als Johnny oder sonst wer, sie machten einfach nur die Augen auf, das konnte Johnny auch selber machen, nur dass die Bosse vom Magazin eben mehr Augen hatten und mehr Dinge und Sachen gleichzeitig sehen konnten. Das war der Unterschied.
Johnny war nicht viele. Johnny war Einzahl. Alle Menschen waren Einzahl. Ein Johnny, zwei Johnnys, drei Johnnys und so weiter, das ergab keinen Sinn. Nein, das ergab keinen Sinn, darauf beharrte Johnny felsenfest, und vielleicht war das die einzige Möglichkeit festzustellen, was wirklich zählte und was nicht: Sich selber fragen, Junge, willst du, dass diese Sache und dieses Ding wirklich zählen oder nicht? Und wenn man dann sagte: Ja, ich will, dass diese Sachen und Dinge wirklich zählen, dann war das so und das war das. 

Johnny haderte mit sich. Er hatte keine Kraft mehr, nie mehr würde er Kraft haben, da war alles zerschlagen und verbraucht und für immer fort. Er entschied sich: Der Großmajor war da. Immerhin jemand. Er war vielleicht schon immer da gewesen. Er würde definitiv immer da sein. Er war nicht sein Freund, aber ein Begleiter war er, und möglicherweise auch eine Art Mentor, von dem Johnny, der gute alte Johnny, im Rinnsal der Momente einiges noch lernen konnte, wenn er sich denn darauf einließ. Johnny wollte sich darauf einlassen.

Und überhaupt: Es war alles sinnlos

Das musste man sich einfach eingestehen. Man konnte den Dingen und den Sachen eine Ordnung aufzwingen, mit Überschriften und Unterüberschriften und Kategorien, mit gründlichen Querverweisen und verschiedener Farbkodierung und Schubladen, aber all das, ja, all das nützte nichts. Es nützte nichts, wenn all das stattfand in einem großen Raum und eben dieser Raum, der der Rahmen für all diese arbiträren Ordnungsmaßnahmen war, selber keine Ordnung und keinen Sinn hatte; wenn der Raum ein schwarzes Loch war und nahtlos in die vierte Dimension führte, die man nicht kannte und nicht verstand und nicht überleben konnte, weil ein Mensch eben nicht vier, sondern drei Dimensionen hat.

So war das. Man musste sich einfach eingestehen, dass alles sinnlos war, und dann ergab plötzlich alles einen Sinn. So ließ es sich leben, nein, existieren, und das war immerhin etwas. Mehr konnte man nicht von jemandem erwarten, als dass er existierte. Und Johnny existierte. Das war seine einzige Gewissheit. Das war immerhin etwas. Immerhin etwas.

Johnny schaltete den Fernseher ein. Das Bild wackelte ein wenig, dann wurde es scharf und er, der grüne majestätische Großmajor mit seinen dämonischen Augen und rasiermesserscharfen Zähnen erschien auf der anderen Seite.

“Na, Jonnäh, du alter Knecht, schwing das Bein! Lange warst du still, du hast dich gewehrt, nicht wahr?”

“Ja.”

“Na schau, wer da den Mund aufkriegt! Aber jetzt wehrst du dich nicht mehr, hm?”'

“Nein.”

“Na fein! Also, Johnny! Auf das Bein und strammgestanden!”

Johnny stand stramm. Johnny presste seine Hände an den Körper.

“Uuuuuund jetzt das Lied!”

Das Lied setzte aus dem Off ein.

“Jonnäh! Marschieren!”, röhrte der Großmajor.

Und Johnny marschierte. Die Musik lief, der Großmajor fuchtelte mit seinen Pranken von Händen herum, und Johnny marschierte. Johnny marschierte.

“Grün, Grün, Grün sind alle meine Farben! Grün, Grün, Grün ist alles was ich hab!”, schmetterte der grüne Großmajor mit seinem fremdländischen Akzent. Und Johnny marschierte. Johnny marschierte. Ja, Johnny marschierte.

Er spürte dabei, wie sich langsam etwas in ihm aufbaute. Es fühlte sich ganz ähnlich an wie damals, als sie alle schreien mussten und noch immer nicht wussten, was eigentlich geschehen war. Er wusste und hörte, wie hier und da immer wieder einzelne Leute schreien mussten, der Schrei war meist nur kurz, aber treffsicher auf irgendeiner unbenannten Note angesiedelt; dann ganz abrupt, so wie er auch begonnen hat, verstummte er meist wieder und es war, als wäre nie etwas gewesen. Nun ist es also meine Zeit gekommen, einmal postmortem zu schreien, dachte sich Johnny und machte sich bereit - es war bald aufregend, und dann auch noch, während er marschierte, wo der Großmajor ihn sah und ihn hörte, sein ganz persönliches Publikum! 

Und dann entfuhr ihm ein Kichern.

Der Großmajor zog eine buschige Augenbraue hoch und trat etwas näher an den Bildschirm heran. Johnny marschierte, als wäre nichts gewesen. Dann musste er wieder kichern, dieses Mal länger. Er hielt sich die Hand vor den Mund. Dann musste er stehen bleiben, hörte zu marschieren auf, stützte sich mit beiden Händen auf den Knien ab und und schaute auf den Boden, doch er konnte nicht anders als einmal laut aufzulachen.
Er wusste selbst nicht, woher das plötzlich kam, aber ihm war überhaupt nicht mehr nach schreien, nie wieder, sondern nach lachen! So fühlte sich das an! Was sollte er denn auch sonst tun! Wenn man es aus dem Winkel betrachtete, in dem Johnny jetzt stand, war es alles einfach komisch, ur-komisch! Urkomisch! Wie er sich gewehrt hatte! Wie er gehadert hatte! Es war doch alles sinnlos! Die Welt fratzelte schließlich weiter vor sich hin, ihr blieb ja auch gar nichts anderes übrig! Ob mit oder ohne Johnny. Zum schreien komisch! Lustig! Zum Totschießen! Piff-paff! Badabing, Badabum! Ahahaha! Er hatte nur loslassen müssen! So leicht ging das also! Schwupps!
Er schaute den Großmajor an, und bei diesem Anblick konnte er nicht länger an sich halten und lachte endgültig los.
Er lachte.
Johnny lachte.
Es war ein lautes Lachen, das vom ersten Ton an das Lied im Fernsehen übertönte, erst ein gehemmtes Lachen, dann immer ungehemmter, und dann tauchte ein Lächeln im Gesicht des Großmajors auf, ein gutwilliges, ehrliches Lächeln, und auch er prustete schließlich los und lachte, lachte, lachte, lieferte sich ein Lachduell mit Johnny Boy, ein Duell, bei dem es keine Verlierer gab, und immer wieder schob er ein Na also! und ein Geht doch! in seinem fremdländischen Akzent dazwischen, wenn er sich halbwegs gefangen hatte, damit musste der Großmajor aber irgendwann aufhören, weil er vor lauter lachen zu Boden fiel, von wo aus man ihn weiter lachen hören konnte; Johnny aber stand aufrecht, so aufrecht wie er lange nicht gestanden hatte, und er lachte ein schallendes, ehrliches, herzhaftes Lachen, und das Lachen erfüllte seine gesamte Wohnung und drang durch die dicken Fensterscheiben aus Uranglas hinaus in die Straße, von dort aus breitete es sich in der ganzen Stadt aus und schließlich in der ganzen weiten Welt, wo es ein Echo gab und das Lachen, Johnnys Lachen, viele lange Momente noch verweilte, von manchen gehört wurde, von manchen auch nicht, aber das war okay, denn das Lachen war da, und wenn etwas da war, konnte man von ihm nicht viel mehr erwarten, als eben bloß dazusein, und genau das tat dieses Lachen, und das tat auch Johnny, und das war gut so, und das war genug. Das musste genug sein. Und das war es auch.

~ ENDE ~