Das Gespenst des Faschismus
Ein wenig sachlicher Gedankenstrom über Faschismus und Ideologie an sich.
“Hat der alte Hexenmeister
Sich doch einmal wegbegeben!
Und nun sollen seine Geister
Auch nach meinem Willen leben.”
-Goethe, Der Zauberlehrling.
Folgt mir einen Augenblick. Was wäre, wenn jener alte Hexenmeister das gespenstische Ungeheuer namens Faschismus ist, in dessen Schule ganz unfreiwillig die gesamte nachkommende Geschichte Deutschlands steht? Was, wenn der Zauberlehrling eigentlich die Nation unserer Gegenwart ist, die angesichts ihres eigenen gigantischen Schattens bisweilen ganz naiv meint, ähnliche Proportionen annehmen zu wollen? Zu können?
Bewusst habe ich hier den berühmt-berüchtigten Goethe zu Rate gezogen. Eine monumentale Figur ist er in der deutschen LITERATURgeschichte, und er liegt in der Vergangenheit. Der Mann ist tot, versteht sich von selbst, und daran wird sich nichts ändern. Er hatte seine Zeit auf Erden, seine Chance, sein einmaliges Ticket für Bewusstsein. Jetzt liegen seine sterblichen Überreste seit bald zwei Jahrhunderten in Weimar und sein Werk in den Regalen, aber etwas Neues kommt nicht mehr von ihm. Warum auch? Er ist kein Mann des 21. Jahrhunderts. Jeder hat seine Zeit. Und alles hat seine Zeit.
Also zurück zu dem Gegenstand, der immer öfter rasant in meinem Kopf rotiert. Der Ruck nicht nach Rechts, sondern weit jenseits davon hinein in den Rechtsextremismus. In den Faschismus.
Faschismus. Faschismus. Dahinter steht was? Anti-Intellektualismus. Rückständigkeit. Menschenhass. Rassismus. Antisemitismus. Verlust der Menschlichkeit. Die Liste ist lang. Am Ende reicht der Schlussstrich, auf den man sich als Gesellschaft einigen können muss: Faschismus ist schlecht, sehr schlecht, so schlecht, dass es schwierig ist, in irgendeinem willkürlichen Text irgendwo im Internet adäquat den Raum und die Worte dafür zu finden, wie schlecht und scheußlich Faschismus genau ist. Und zwar schlecht für alle; der Faschismus verspeist seine Kinder.
Und seine Kinder sind Menschen. Menschen sind es, immer sind es Menschen. Und wer sind die Menschen? Wir. Wir sind die Menschen. Entsprechend irrational ist es, Faschismus zu befeuern. In Deutschland wütete er spätestens ab 1933 und wurde 1945 zerschlagen. Man sagt, heute sei er tot, so wie Goethe. Alles hat seine Zeit.
Das klingt jetzt relativ sachlich, was ich hier sage, und das sollte so nicht sein. Ich halte es für nicht notwendig, den Faschismus hier auf einer politischen Ebene zu dissektieren und zu diskreditieren. Das kann man machen, ist aber viel Arbeit. Ich mache es mir einfach: Ich schaue die Konsequenz von Faschismus an. Wer die nicht mag, kann folglich auch Faschismus nicht mögen. Ganz einfach ist das.
Jene Konsequenz von Faschismus lässt sich in Zahlen und Statistiken darstellen. Das kann man machen. Aber nicht auf eine solche Weise, dass wirklich vermittelt wird, was genau da eigentlich passiert ist im historischen Faschismus Deutschlands etwa. Was da für Linien überschritten wurden, die den stolzen Menschen mit seiner geheiligten Zivilisation eigentlich abgrenzen sollten gegenüber wilden Tieren. Es gibt keine sachliche Struktur, die man möglicherweise so einem Text wie diesem hier geben könnte, um irgendwie irgendwo irgendetwas adäquat erklären zu können, verständlich machen zu können, was da vor sich geht beim Faschismus, und zwar nicht auf einer rationalen, sondern einer emotionalen Ebene. Wissen ist nicht gleich Verstehen. Also doch nicht so einfach, fällt mir auf. Es scheint mir unmöglich. Ich möchte es im Folgenden auch nicht versuchen.
Der Holocaust. Jetzt habe ich ihn genannt. Er ist das Endprodukt des historischen Faschismus des Dritten Reichs. Das Endprodukt von Faschismus im Ganzen ist Genozid. Wenn meine Nation die einzig gute, starke, wertvolle Nation ist, dann haben die anderen zwangsläufig meine Untertanen zu sein. Die sind im Weg. Stolpersteine auf dem Weg zum Sieg. Randnotizen im Lauf der Geschichte. Und diese Nationen sind Menschen. Das sind Menschen, von denen da die Rede ist. Das sind Menschen, die anders sind, es sind die Anderen, immer die Anderen. Also Genozid! Die Konsequenz so eines Denkens ist Genozid. Die Konsequenz von Faschismus muss immer Genozid sein.
Genozid. Was ein Wort! Genozid! Genozid! Genozid! Genozid! Je öfter man es ausspricht, desto mehr verflüssigt sich seine Bedeutung. Was sind das für Laute, die aus meinem Mund dringen? Was heißt das? Wer hat irgendwann in die Welt geschaut mit seinen beiden Augen und die abscheulichsten, ekelerregendsten, pervertiertesten, unbeschreiblichsten Vorgänge des Erdenrunds wahrgenommen, vielleicht mit sieben Köpfen und zehn Hörnern, und hat sie sich gut angeschaut und gesagt: Ich nenne es Genozid. Was ein eitles Wort! Ein ekeliges, weil so unangemessenes Wort! Das Leid von so vielen Menschen, dass die Nennung der realen Zahl für ein Menschengehirn nicht verarbeitbar und deshalb so zweckfrei ist, dieses Leid wird zusammengestaucht und gepresst, bis es in diesen sieben Buchstaben steckt. Stecken soll. Absurd! Ich möchte mit aller Vehemenz ausrufen: Wem das Produkt nicht gefällt, sollte den Produzenten nicht unterstützen. Sondern die Fabriken einreißen. Und so weiter. Eine unzureichende Metapher. Alles ist unzureichend. Zahlen sind Schall, aber auch meine geliebten Wörter sind Rauch.
Zurück zum Anfang. Wenn vom alten Goethe gesprochen wird, wird der alte Goethe meist gelobt. Auf abstrakte Weise. ‘Wahre deutsche Kultur und Literatur ist das!’, hört man rufen. Was das genau heißen soll, weiß dabei keiner. Nun hat der alte Goethe nichts mit Faschismus, nichts mit Genozid zu tun, das ist klar. Das sei explizit gesagt. Aber er und seinesgleichen werden bisweilen heraufbeschworen als prominentes Beispiel für die ehemalige Größe der guten alten Zeit. Was und wann auch immer diese gute alte Zeit gewesen sein soll. Und konsequent, denn nun ist Goethe, wie bereits gesagt, tot, ebenso als Indikator missbraucht für den Verfall dieser einstigen Größe Deutschlands. Wo ist nur diese Größe hin, frage ich. Wie kann es nur sein, dass dieser Mann, geboren 1749, einfach so - gestorben ist? Wer hat ihn getötet? Wer war es!?
Manch ein blaues Männchen würde heute sagen: Der Ausländer war es. Der Jude war es. Der Moslem war es. Das Fremde ist es doch Schuld, dass diese einstige, diffuse, von mir gar nicht definierte Größe abhandengekommen ist. Es kann ja gar nicht anders sein. Schaut nur in die Natur: So etwas wie einen natürlichen Verfall gibt es nicht! Alles währt ewig. Das weiß doch jedes Kind! Jedes einzelne Kind.
So sagt manch ein blaues Männchen oder Weibchen. Wir wissen alle, von wem die Rede ist. AfD.
Gerade deswegen hat sich ein Tino Chrupalla 2021 derart blamiert, als er in einem KINDERinterview davon sprach, deutsche Kinder müssten mehr deutsche Gedichte in der Schule lernen.
Er selbst kannte keines. Diesem Mann fiel auf Nachfrage kein einziges Gedicht ein. Keines. Er sollte es nicht rezitieren. Er musste es nur nennen. Keines. Was ein, Achtung, aufgepasst: Erbärmlicher Mann. Dem ist die ausländerangetriebene Entkulturalisierung im eigenen Hirn so weit fortgeschritten, dass er kein einziges deutsches Gedicht mehr kennt. Wie der sich in den Schlaf weinen muss! Nur ein Schelm könnte ganz dreist die Frage stellen, ob nicht Tino ganz persönlich unaufmerksam in der Schule war, ob nicht er ganz persönlich versäumt, seine Eigenbildung in der Freizeit voranzubringen. Man sehe es ihm nach - woher soll er die Zeit nehmen, wenn er rund um die Uhr mit Hass, Hetze und generellem Dummsein alle Hände voll zu tun hat.
Und zurück zum historischen Faschismus: Auch hier werden die Eigenverantwortung und die komplexen undurchsichtigen Prozesse brutalst vereinfacht und abgewälzt auf: Die Anderen. Auf alle, die nicht ich sind. Auf alle, die nicht WIE ich sind. Und das sind eine ganze Menge. Was da in den Konzentrationslagern des Dritten Reichs für Nationalitäten und Religionen zusammengekommen sind! Was für willkürliche Gründe genommen wurden, um Menschen alles wegzunehmen, was sie besessen haben, alles, was sie je noch hätten haben können und hätten sein können, diese vernichteten Möglichkeiten, um sie wegzusperren und zu foltern und ihnen den Namen und die Familie und die Individualität und die Menschenwürde und die Menschlichkeit und zuletzt, ganz zuletzt erst, das Leben zu nehmen. Und wie viele! Ganze Häuserblocks. Stadtviertel. Populationen. Menschenleben, jedes einzelne. Ende. Vernichtet. Die kommen nicht wieder, wir können sie nicht wiederbeleben, das ist irreversibler Schaden an der Menschheit an sich. Wir alle. Sind. Die. Menschheit. Selbst jetzt noch, wo diese Verbrechen, zumindest diese Verbrechen seit 80 Jahren vorbei sind, sind wir Menschen. Sind die Menschheit. Die Opfer kommen nicht wieder. Die Täter auch nicht. Auch ohne selbst unmittelbar getötet worden zu sein, gibt es sie nicht mehr. Der natürliche Verfall, denn ihn gibt es doch, hat sie sich geholt. Die einzige wahre Gerechtigkeit auf Erden ist das unausweichliche Schicksal, dass ein jeder Mensch einmal sterben muss.
Alle sind sie tot. Ihre Zeit ist vorbei.
Und heute, was ist nun wieder heute?
Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Faschismus. Da ist er wieder.
WOHER KOMMT ER? AUS WELCHEM TARTARUSLOCH MUSS DER GOTTVERSCHISSENE FASCHISMUS GEKROCHEN SEIN, UM NEU AUFERSTANDEN IN PERSONA WIEDER ERNEUT VOR DEN MENSCHEN ZU STEHEN und zu sagen mit seiner ekeligen, schleimigen, verlogenen Stimme: Ich bin der Faschismus, und ich bin die Antwort. Ich bin der Faschismus, und ich werde euch erretten!, nur um dann durch den Kontinent und die Erde zu schreiten in seinen schwarz-verkohlten Leichengewändern, die man nachts in den Straßen rascheln hören kann, dieses verwesende Gespenst unter Menschen, dieser Todesgott, heraufbeschworen von eben denselben Menschen, die ihm einst zu Opfer gefallen sind und auch wieder zu Opfer fallen werden, denn Menschen sind Menschen, der Faschismus aber ernährt sich von Menschen, er reißt ihnen den Verstand und die Vernunft aus, erstickt die Empathie und die Emotion, baut sich seine verstümmelte Armee von halb-toten Maschinenmenschen, die vor ihrer eigenen Schande und Angst fliehen, indem sie Menschen und Menschen und Menschen und am Ende doch auch sich selbst opfern werden, denn das erste Opfer ist die Menschlichkeit, und danach ist nichts mehr.
Das ist das Gesicht des Faschismus. Das ist ein verzerrtes Schnauzbart-Gesicht namens Hitler. Das ist ein Mussolini. Das ist ein Höcke.
Das war die NSDAP, das ist die AfD. Und die AfD ist so wie ihre historische Vorgängerin ein Wirt für die tödlichste Art Parasit, die da ist: Ideologie. Im Gegensatz zu den Tätern ist die Ideologie nicht tot. Ideologie stirbt nicht. Niemals. Nur ihre Wirte. Und wenn nun, da dieser Parasit wieder seine Wurzelflechte in die Köpfe nichts ahnender, verwirrter, im Kern auch nur ängstlicher Menschen setzt und ihnen zu gut klingende, zu einfache Antworten einsäuselt, wenn die BRD sich anschickt, ähnlich zu verunglücken wie die Weimarer Republik, dann muss man sich einmal am Schopfe reißen und fragen: Was, ja, was kann ich tun, um zu verhindern, dass der Verlauf der Geschichte zur Ouroboros, der sich selbst fressenden Schlange wird und die Menschheit sich ewig und immer aufs neue als Jäger ihrer selbst zerstäubt und zertritt und zerfleischt und zerstört, bis da irgendwann unausweichlich nichts, überhaupt nichts mehr ist.
Ich habe keine Antwort.
Das ist das ernüchternde Ende. Ich habe keine Antwort. Da ist kein theatralischer Deus ex machina, der aus dem Off herbeischweben wird und uns die Lösung präsentiert. Da ist nur der Mensch, alleine mit sich selbst. Und mit den Ideologien. Hört ihr sie nagen? Sie nagen, selbst jetzt in diesem Augenblick, an den Köpfen der Menschen. Auch an euren. Es muss gar nicht unbedingt der Faschismus sein. Es gibt genug Ideologien auf der schönen weiten Erde, und sie alle sind, freilich auf verschiedene Arten, der Feind der Menschheit. Ideologie tötet kritisches Denken. Ideologie tötet Denken überhaupt. Ideologie tötet Menschlichkeit.
Wenn ein Chrupalla deutsche Dichtkunst lobt und sie gar nicht kennt, ist ihm nicht bewusst, was für ein wandelnder Widerspruch er ist. Er ist ein Opfer von Ideologie geworden. Glauben, ohne zu wissen. Der Mensch ist nicht der Herrscher der Welt. Ideologie ist es. Sie ist der unsterbliche Spitzenprädator. Ihre bisweilen stärkste Subklasse ist der Faschismus, und man kann ihn nicht besiegen mit einer anderen Ideologie. Feuer bekämpft man nicht mit Feuer. Sondern mit Individualität, und gerade dadurch mit - Menschlichkeit.
Zahlen sind Schall, Worte sind Rauch.
Der alte Goethe ist tot. Das Dritte Reich auch. Der Faschismus - niemals. Er tanzt auf dem Scheiterhaufen von 4 Millionen Juden? Sechs Millionen? Was soll mein Menschenhirn mit dieser Zahl anfangen? Zahlen sind Schall.
Setzt euch hin und denkt euch etwas Neues aus. Schreibt etwas eigenes, etwas Großes. Die Vergangenheit ist tot, aber die Menschheit lebt.
In “Der Zauberlehrling” ist übrigens der Titelheld heillos überfordert und verliert die Kontrolle über seine Zauberei. Er kann das, was er heraufbeschworen hat, das, was eigentlich in seinem Dienste stehen sollte, nicht beherrschen:
“Die ich rief, die Geister,
Werd’ ich nun nicht los.”
Allein der alte Hexenmeister kann das Chaos am Ende bewältigen. Das zeigt die Grenzen des Vergleichs auf, wo ich doch eingangs vorgeschlagen habe, der Hexenmeister sei der Faschismus. Die reale Bedeutung von Faschismus und seinem Produkt Genozid lassen sich nicht ernsthaft auf diese Weise vermitteln. Worte sind Rauch.
Der Faschismus lauert. Bleibt wachsam.
